Donnerstag, 1. November 2012

Kontingenz, Kritik und das Internet



Auch der folgende Beitrag konzentriert sich auf das Thema Gesellschaft und Internet. Nach wie vor wird von der Annahme ausgegangen, dass das Internet die technischen Möglichkeiten der Beobachtung von Beobachtern erweitert hat. Da diese Möglichkeiten von vielen Menschen genutzt werden, kommt es zu einer bisher nicht gekannten Flutung der Gesellschaft mit Kontingenz. Dass Kontingenz als solche registriert und als Bedingung für den Vollzug von Kommunikation berücksichtigt wird, ist ein spezifisch modernes Phänomen. Theologische Reflexionen bereiteten die semantischen Bedingungen für eine Beobachtungsweise vor (Luhmann 2006, S. 114), die schließlich zur operativen Schließung verschiedener Funktionssysteme führte und einen Wechsel in der Differenzierungsform der Gesellschaft einleitete hin zu funktionaler Differenzierung. Niklas Luhmann bezeichnete Kontingenz deswegen als einen Eigenwert der modernen Gesellschaft (2006). Wenn man sich mit der Frage auseinandersetzt, welchen Einfluss das Internet auf die Gesellschaft hat, dann kommt man nicht umhin sich mit der Frage auseinander zu setzen, welche Funktion das Internet für den gesellschaftlichen Umgang mit Kontingenz hat? Dazu ist es als Erstes notwendig den Begriff Kontingenz näher zu bestimmen.


Ausgangspunkt ist Niklas Luhmanns Bestimmung des Kontingenzbegriffs, wonach etwas kontingent ist, wenn es nicht notwendig ist und dadurch anders möglich (1984, S. 152). Damit etwas als kontingent beobachtet werden kann, muss ein Kontext gegeben sein in dem es als kontingent beobachtet werden kann. Man kann z. B. einen Haken mit einer Schraube an der Wand befestigen. Statt sich aber die Arbeit zu machen erst ein Loch in die Wand zu bohren um einen Schraubdübel in die Wand zu stecken in den man schließlich die Schraube einschraubt, könnte man einfach einen Nagel in die Wand einschlagen um den Haken zu befestigen. Der Kontext ist hier der Zweck den Haken an der Wand zu befestigen. Als Mittel um diesen Zweck zu erfüllen, kann man den Haken anschrauben oder mit einem Nagel befestigen. Egal welche Alternative gewählt wird, stellt sie sich im Horizont anderer Möglichkeiten als kontingent dar eben weil es eine andere Möglichkeit gegeben hätte um den Haken an der Wand zu befestigen. Kontingente Lösungen lassen sich aber nicht nur bei mechanisch-technischen Problemen beobachten sondern auch bei sozialen Problemen. Hinsichtlich letzterem wird Kontingenz im Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft beobachtbar. Dass dies möglich wurde, kann auf eine bestimmte Art der Beobachtung zurückgeführt werden – nämlich der Beobachtung 2. Ordnung (vgl. Luhmann 2006, S. 100), die hier bisher nur als Beobachtung von Beobachtern bezeichnet wurde.

Wie funktioniert Beobachtung 2. Ordnung? Dazu ist es zunächst notwendig darzustellen, was eine Beobachtung 1. Ordnung ist. Mit Beobachtung ist eine Operation gemeint, bei der unterschieden wird um etwas zu bezeichnen. Eine Bezeichnung wird dabei im Rahmen einer Unterscheidung getroffen. Die Unterscheidung selbst ist eine zweiseitige Form. Bei einer Beobachtungsoperation wird immer nur eine Seite der Unterscheidung bezeichnet und nicht die andere, z. B. schwarz und nicht weiß, laut und nicht leise, süß und nicht sauer, Nagel und nicht Schraube etc.. Man kann nicht beide Seiten der Unterscheidung gleichzeitig bezeichnen. Erst unter Aufwand von Zeit kann in einer nachfolgenden Operation die andere Seite der Unterscheidung bezeichnet werden. Bei einer Beobachtung 1. Ordnung erfolgt die Beobachtung nur im Rahmen der Unterscheidung. Die Unterscheidung ist zwar Voraussetzung für das Bezeichnen einer der beiden Seiten. Es gibt aber keine Möglichkeit im Rahmen der Unterscheidung die Unterscheidung selbst zu bezeichnen. Dadurch wird beim Bezeichnen nicht erkennbar, dass im Rahmen der Unterscheidung anders bezeichnet werden könnte (vgl. Luhmann 2006, S. 98f).
Das ändert sich, wenn auf Beobachtung 2. Ordnung umgestellt wird. Bei einer Beobachtung 2. Ordnung werden Unterscheidungen bezeichnet, z. B. Farben und nicht Töne, Anbringen und nicht Abmontieren. Je nach dem was (sachlich) wer (sozial) wann (zeitlich) beobachtet, wird sichtbar, dass anders beobachtet werden kann. Dasselbe kann anders beobachtet werden (sachlich), dasselbe kann von verschiedenen Beobachtern jeweils anders beobachtet werden (sozial) und dasselbe kann zu verschiedenen Zeitpunkten anders beobachtet werden (zeitlich). Wenn man den Gebrauch von Unterscheidungen auf diese Weise beobachtet, wird die Kontingenz alles unterscheidenden Bezeichnens beobachtbar (vgl. Luhmann 2006, S. 98ff.). Weil Unterscheidungen selbst als Beobachter bezeichnet werden, spricht man deswegen auch von der Beobachtung von Beobachtern. Und weil soziale Systeme über unterscheidendes Bezeichnen Informationen produzieren und weiterverarbeiten, werden soziale Systeme auch beobachtende Systeme genannt. Die Form der Beobachtung ist bei Beobachtungen 1. und 2. Ordnung gleich, es wird immer unterschieden und bezeichnet. Bei der Beobachtung 2. Ordnung richtet sich die Aufmerksamkeit jedoch auf die Unterscheidungen und damit auf die Selbstreferenz sozialer Systeme. Darin liegt der Unterschied zwischen vormodernen und modernen Formen der Beobachtung. Das heißt jedoch nicht, dass in der Moderne keine Beobachtungen 1. Ordnung mehr vollzogen werden. Es ist lediglich eine weitere Form der Beobachtung dazugekommen und Kontingenz ist der Effekt der eintritt, wenn von der Beobachtung 1. Ordnung zur Beobachtung 2. Ordnung gewechselt wird.

Spätestens mit der Erfindung des Buchdrucks waren die Möglichkeiten für die Beobachtung von Beobachtern geschaffen und wurden auch genutzt. Mit dem Buchdruck war jedoch noch keine sehr schnelle Informationsverbreitung möglich. Mit jeder technischen Innovation der Informationsverbreitung erhöhte sich die Umschlaggeschwindigkeit. Über die Zeitung, den Telegraphen, das Telefon, das Radio, das Fernsehen konnte die Geschwindigkeit der Informationsverbreitung erhöht werden um sich mit dem Internet schließlich in Echtzeit zu vollziehen.  Der Zugang zum Internet ermöglicht heute den sofortigen Zugang zu unüberschaubaren Wissensbeständen, deren Aktualität aufgrund der Umschlaggeschwindigkeit ständig zur Disposition steht. Wobei es nicht nur um wissenschaftlich geprüftes Wissen geht. Man kann sich über Kochrezepte, Reparaturanleitungen, Pflanzenpflege, Flirttipps, Beziehungstipps, Kulturtipps und vieles mehr informieren. Zu jeder beliebigen Thematik lässt sich etwas im Internet finden. Je nachdem wie tief man in eine Thematik eindringen will, lassen sich bei guter Recherche völlig gegensätzliche Positionen zum selben Thema finden mit jeweils plausiblen Begründungen. Ist man an diesem Punkt angekommen, lässt sich die Kontingenz von Wissensbeständen nicht mehr ignorieren. Selbstverständliches wird im Lichte bisher nicht bekannter Informationen plötzlich fragwürdig. Wird das Internet auf diese Weise genutzt, hat die Kommunikation via Internet sogar eine erzieherische Funktion denn sie weckt den Sinn für Kontingenz. Wenn von erziehender Funktion die Rede ist, bezieht sich das auf Niklas Luhmanns Bestimmung von Erziehung im Unterschied zu Sozialisation (vgl. Luhmann 2002, S. 53). Bei Sozialisation geht es um die Vermittlung von Selbstverständlichkeiten durch Nachahmung. Sozialisation ist damit immer Selbstsozialisation. Erziehung vollzieht sich dagegen durch die Kommunikation von Unbekanntem, Ungewöhnlichem, Nicht-Selbstverständlichem. Das geschieht in der Regel in der Schule. Erziehung durch Internetrecherchen ist aber noch keine Kommunikation, die dem Erziehungssystem zugerechnet werden kann. Man findet zwar bei einer Internetrecherche die Richtigkeit des eigenen Wissens bestätigt. Man kann sich im Internet aber auch darüber informieren, dass es anders geht. Die eigenen Wissenslücken werden sichtbar und man hat die Möglichkeit diese mit Informationen aus dem Internet zu füllen. Erziehung via Internet ist damit immer Selbsterziehung.
Will man in dieser Situation noch darüber urteilen wie überzeugend, plausibel, wahr oder richtig bestimmte Wissensbestände sind, muss man auf Beobachtung 2. Ordnung wechseln um zu beobachten, wie bestimmte Beobachter zu ihren Beobachtungen kommen – also welche Unterscheidungen im Spiel sind. Erst im Modus der Beobachtung 2. Ordnung sieht man, was ein Beobachter sieht und was er nicht sieht. Und erst dann wird ersichtlich warum eine bestimmte Position aus der Perspektive des Beobachters, der sie vertritt, notwendig erscheinen kann. Kontingenz bedeutet also nicht Beliebigkeit. Und erst dann lassen sich Alternativen formulieren, die auch aus der Perspektive des Beobachteten als solche erscheinen können. Somit eröffnet erst Kontingenzproduktion durch Beobachtung 2. Ordnung die Möglichkeit für Kritik. Aber erst eine Kritik die nicht nur verneint sondern auch Alternativen vorschlägt, die aus der Perspektive des Kritisierten als solche erscheinen, hat eine Chance auf Realisation. Sie muss sich also auf die Perspektive des Kritisierten einlassen um etwas verändern zu können [1]. Wenn das Internet die Möglichkeiten der Beobachtung 2.Ordnung erweitert, erweitert es damit zugleich auch die Möglichkeiten für Kritik.

Kritik bezieht sich immer auf bestimmte Themen oder Problemlagen. Aufgrund funktionaler Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene Funktionssysteme differenzieren sich auch diverse Spezialöffentlichkeiten mit aus. Aus dieser Entwicklung entsteht das Problem, dass mit einer steigenden Anzahl an Spezialöffentlichkeiten das potentielle Publikum für jede einzelne dieser Öffentlichkeiten kleiner wird. An anderer Stelle wurde dieser Prozess auch als Fragmentierung bezeichnet, der zu einem Weniger an Öffentlichkeit führt. Aufmerksamkeit ist knapp und entsprechend sinkt die Reichweite der Kritik. Hinzu kommt, dass sich durch die neuen Kommunikationstechnologien wie SMS, Chatten oder Twitter Kommunikationsstile eingespielt habe, die zur Überreduktion neigen. Damit ist ein Trend zur Verkürzung von Mitteilungen gemeint. Die Daten pro Mitteilung werden immer geringer. Per SMS oder Twitter kann man nicht mehr differenziert Abwägen und Argumentieren. Stattdessen wird nur noch verlautbart. Analog dazu ist Wissen im Internet nur noch häppchenweise zugänglich. Systematische Darstellungen oder umfangreiche Argumentationen für eine bestimmte Position sind im Internet eher selten zu finden. Dafür muss man nach wie vor auf andere Verbreitungsmedien wie Bücher, Zeitungen oder Zeitschriften zurückgreifen. Sich über den Stand einer Diskussion via Internet umfassend zu informieren, erfordert aufgrund verstreuter Wissensfragmente einen sehr hohen Recherche- und Zeitaufwand. Im Zuge dessen, tendieren die Darstellungsformen für bestimmte Wissensbestände im Internet zu mehr Idiosynkrasie, d. h. die Darstellungsformen werden immer unsystematischer und bruchstückhafter - was wiederrum den Recherche- und Zeitaufwand weiter erhöht. Sich vollständig über ein Thema zu informieren ist praktisch unmöglich und die Vorstellung vollständigen Informiert-Seins wird spätestens mit dem Internet unhaltbar. Auf diese Weise entstehen allerdings auch neue und überraschende Sinnkombinationen und das Internet wird zu einer Spielwiese für ungewöhnliche Kommunikationsangebote.
Die Fragmentierung in Spezialöffentlichkeiten und die Zerstückelung der Wissensbestände im Internet sind beides Störfaktoren, welche die Chancen für erfolgreiche Kritik trotz Erweiterung der Beobachtungsmöglichkeiten mindern aber sicherlich nicht verhindern – zumindest solange man sich nicht ausschließlich auf das Internet als Informationsquelle und Aktionsplattform verlässt [2]. Sofern man mit dem Internet Hoffnungen auf Emanzipation verbinden möchte, so wären diese nicht in der faktischen Existenz des Internets als technische Infrastruktur für Kommunikationsprozesse begründet sondern in der Möglichkeit zur Beobachtung 2. Ordnung, denn nur diese eröffnet erst die Möglichkeiten für Kritik.

Wenn Kontingenz als Effekt der Beobachtung 2. Ordnung ein Produkt der Moderne ist, dann ist es Kritik also ebenfalls. Fragmentierung der Öffentlichkeit und des über das Internet zugänglichen Wissens erschweren Kritik – machen sie aber nicht unmöglich. Es wurde noch ein weiterer Störfaktor identifiziert, der die Funktion von Kritik verhindern soll. Dafür spielt der Unterschied zwischen Beobachtung 1. und 2. Ordnung keine Rolle und die Störung wäre insofern fundamentaler als die anderen beiden. Erweiterung von Beobachtungsmöglichkeiten durch das Internet – egal ob 1. oder 2. Ordnung – bedeutet lediglich Erhöhung der Informationsproduktion. Das führt zunächst nur zu einer Steigerung der gesellschaftlichen Komplexität die in einer Art kommunikativen Rauschen aus dem Internet die Gesellschaft laufend irritiert. Hinsichtlich dieser Steigerung der kommunikativen Komplexität durch das Internet wurde die Vermutung geäußert, dass sich die Gesellschaft damit selbst überfordern würde (vgl. Baecker 2007, S. 7). Bezieht man diese Aussage auf die Gesellschaft als Gesamtsystem mag dieses Argument auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität besitzen, erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als unbegründet. Für Gesellschaft als Gesamtsystem lässt sich die System-Umwelt-Differenz in der Differenz Kommunikation (System) und Nicht-Kommunikation (Umwelt) reformulieren. Als Selektionskriterium für weitere Anschlüsse ist Kommunikation aber zu unspezifisch. Es ermöglicht nicht den Aufbau systeminterner Komplexität, weil jedes Element mit jedem verbunden werden kann [3]. Der Eindruck von der (Selbst-)Überforderung der Gesellschaft kann entstehen, wenn man implizit annimmt Kommunikation müsste an jedes Kommunikationsangebot anschließen. Entsprechend kann die Frage nach einer möglichen Überforderung der Gesellschaft durch das Internet nicht beantwortet werden wenn die gegenwärtige Form gesellschaftlicher Differenzierung unberücksichtigt bleibt. Denn die Form gesellschaftlicher Differenzierung beschreibt den Grad gesellschaftsinterner Komplexität. Deswegen wird im Folgenden dargestellt, wie die Funktionssysteme der Gesellschaft beobachten und Kontingenz in Notwendigkeit transformieren. Erst dann kann beurteilt werden, welche Rolle das Internet dabei spielt.

Kommunikation ist die Lösung für das Problem, dass Menschen keine Gedanken lesen können. In Abhängigkeit davon ob die Kommunikationspartner Beobachteter oder Beobachtender sind und ob ein Beitrag auf Erleben oder Handeln des Beobachteten oder des Beobachtenden zugerechnet wird, ergeben sich weitere soziale Probleme mit denen potentiell jeder Mensch konfrontiert werden könnte (vgl. Luhmann 1997, S. 334ff.). Im Laufe der gesellschaftlichen Evolution haben sich diverse Subsysteme der Gesellschaft ausdifferenziert, die sich jeweils auf die Lösung eines dieser gesamtgesellschaftlichen Problemlagen konzentrieren. So kümmert sich die Wirtschaft um die Verteilung knapper Güter, die Politik um die Bereitstellung der Kapazität für kollektiv bindende Entscheidungen, die Wissenschaft um die Durchsetzung von neuem und ungewöhnlichem Wissen, die Liebe um die Akzeptanz hoch individualisierter Weltsichten, die Kunst um die Darstellung der Welt in der Welt usw. Im Übergang zur Moderne kam es zur operativen Schließung der einzelnen Funktionssysteme, die es den Systemen ermöglichte autonom zu operieren. Das bedeutet unter anderem, dass ein Funktionssystem nicht in die Operationen eines anderen Funktionssystems eingreifen kann. Wenn z. B. die Politik in die Verteilung knapper Güter zu beeinflussen versucht, geschieht dies nicht nach wirtschaftlichen Kriterien sondern nach politischen. Es bleibt also eine Operation im politischen System, da die Verteilung nach Kritierien von mehr oder weniger Macht erfolgt und nicht nach mehr oder weniger Verfügbarkeit.
Aus jedem gesamtgesellschaftlichen Problem lässt sich ein Zweck formulieren und in einen Code überführen: für Wirtschaft Zahlen/Nicht-Zahlen, für Politik Macht/Nicht-Macht, für Wissenschaft wahr/unwahr etc. Alle diese Codes entsprechen der System-Umwelt-Differenz. Die Beobachtung mit diesem Code funktioniert im Prinzip wie oben beschrieben durch Unterscheiden und Bezeichnen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die System-Seite der Differenz zugleich eine Präferenz formuliert (vgl. Luhmann 1997, S. 360). Eine Information muss sich der Systemseite zuordnen lassen um als Ausgangspunkt für weitere kommunikative Anschlüsse zu dienen. Ob dies möglich ist, erfolgt über die Reflexion auf den Negativwert – also der Umwelt-Seite der Differenz. Durch diese Reflexionsmöglichkeit wird Kontingenz in das System eingeführt, aber nur zu dem Zweck die Notwendigkeit der jeweiligen Funktion des Systems zu bestätigen. Würde ein Funktionssystem seine Funktion und damit seinen Zweck in Frage stellen, hätte es keinen Anhaltspunkt mehr, wie sich das System von seiner Umwelt unterscheiden kann. In der Konsequenz würde es im Rauschen der Umwelt aufgehen und verschwinden. Die Notwendigkeit der Funktion kann also nicht in Frage gestellt werden, denn nur in Bezug auf diese Funktion kann das System seine Grenzen bestimmen und sich von seiner Umwelt unterscheiden.
Die Bestimmung eines Zwecks konditioniert ein System aber nur relativ schwach (vgl. Luhmann 1997, S. 361f.). Anhand des Zwecks wird nur festgelegt, was als Lösung des Bezugsproblems in Frage kommt. Diese sogenannte Zweckprogrammierung schränkt den Selektionsbereich möglicher Lösungen ein. Für diesen Selektionsbereich stellt sich das Kontingenzproblem aber erneut, denn für die Erfüllung desselben Zwecks können verschiedene Lösungen in Frage kommen. Deswegen müssen weitere Konditionierungen in Form von wenn-dann-Formeln formuliert werden, welche den Selektionsbereich unter Berücksichtigung situativer Variablen weiter einschränkt. Nach dem ein Initialereignis anhand der wenn-dann-Formeln geprüft wurde, kann die Ausgangsinformation einem der beiden Code-Werte zugeordnet werden. Konditionalprogrammierungen [4] werden also mit Bezug auf den Code formuliert. Damit dieser Code-Bezug nicht verloren geht, bieten sogenannte Kontingenzformeln weitere Orientierung für die Einschränkung der Lösungsmöglichkeiten – sie transformieren also Kontingenz in Notwendigkeit. Die Wirtschaft reflektiert seine Konditionalprogrammierung mit der Kontingenzformel Knappheit, die Politik reflektiert auf Gemeinwohl, die Wissenschaft auf Limitationalität, die Religion auf die Idee eines einzigen Gottes oder die Erziehung auf Bildung (vgl. Luhmann 1995; 217ff., Luhmann 2000, S. 118ff.). Die Transformation der systemintern produzierten Kontingenz anhand der Kontingenzformeln in Notwendigkeit erfolgt jedoch nicht mehr auf der Ebene der Funktionssysteme sondern auf der Organisationsebene. Das Tagesgeschäft von Unternehmen, Regierungen, Forschungseinrichtungen, Gemeinden oder Schulen besteht im Abarbeiten von Ausgangsinformationen nach Maßgabe der Zweck- und Konditionalprogrammierungen.

Das führt zu der Frage, wie systemintern Kontingenz produziert wird? Oben wurde bereits beschrieben, dass Kontingenz ein Effekt der Beobachtung 2. Ordnung ist. Daher muss die Frage lauten, wie Funktionssysteme Beobachtungen 2. Ordnung ermöglichen bzw. wie Funktionssysteme eine systeminterne Öffentlichkeit herstellen? Oder nochmals anders formuliert, wie können sich die einzelnen Organisationen und Personen eines Funktionssystems gegenseitig beobachten? Luhmann zeigte, dass jedes Funktionssystem dafür seine eigene Form gefunden hat (vgl. 2006, S. 119 – 125). Das Wirtschaftssystem ermöglicht es den verschiedenen Unternehmen über den Markt die Preise zu beobachten. Auf diese Weise können die Marktteilnehmer abschätzen zu welchem Preis sich ein Produkt noch verkaufen lässt und zu welchem nicht mehr. Die Politik orientiert ihre Beobachtung der internen Umwelt an der Fiktion der öffentlichen Meinung. Im Spiegel der öffentlichen Meinung können sich die politischen Konkurrenten gegenseitig beobachten und welche Lösung sie für bestimmte Probleme anbieten. Aber auch das Publikum der Bürger kann anhand der öffentlichen Meinung die Politiker beobachten und anhand der angebotenen Lösungen entscheiden, wem sie bei der nächsten Wahl ihre Stimme geben wollen. Die Wissenschaft schafft eine systeminterne Öffentlichkeit über Publikationen. Gelegentlich kommt es vor, dass widersprüchliche Forschungsergebnisse produziert werden. Die können eigentlich nicht beide wahr sein. Aufgrund der Kontingenz solcher Forschungsresultate konnte ein absoluter Wahrheitsbegriff nicht länger aufrechterhalten werden. Dieser Umstand verschob die Aufmerksamkeit von dem was beobachtet wurde auf die Frage wie beobachtet wurde. Die Funktion von Publikationen besteht demzufolge darin für andere, die an der Forschungsarbeit nicht selbst teilnehmen konnten, darzustellen, wie man auf die Ergebnisse kommt. An diesem Zweck richtet sich dann die Form der wissenschaftlichen Publikation aus. In anderen Funktionssystemen wie Recht, Kunst oder Erziehung lassen sich funktional-äquivalente Lösungen finden.

Welche Rolle spielt nun das Internet für die systeminterne Beobachtung einzelner Funktionssysteme? Dies bezüglich wurde bereits die Antwort gegeben, dass durch das Internet die Möglichkeiten der Beobachtung 2. Ordnung erheblich erweitert wurden. Das politische Geschehen kann man im Internet verfolgen [5], Preise kann man über das Internet vergleichen, wissenschaftliche Publikationen kann man teilweise auch über das Internet abrufen, über potentielle Beziehungspartner kann man sich in Singlebörsen im Internet informieren, ebenso über Gesetze und Gerichtsentscheidungen, über Erziehungsmethoden, über religiöse Angebote. Dies erzeugt zweifellos eine riesige Informationsflut. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet: besitzen alle diese Informationen eine Relevanz für Entscheidungen von Organisationen der jeweiligen Funktionssysteme? Dafür muss als erstes noch einmal daran erinnert werden, dass das Internet kein System ist. Es prozessiert nicht die Unterscheidung von System und Umwelt, sondern bildet lediglich die technische Infrastruktur für Informationsflüsse. Somit entscheidet das Internet nichts, denn das Internet ist auch kein Organisationssystem. Sicherlich werden über das Internet alternative Lösungsvorschläge für bekannte Probleme kommuniziert und somit die Möglichkeitsspielräume zum Teil bis ins Unüberschaubare erweitert. Aber in wieweit diese in Entscheidungen einfließen, ist eine Frage auf die das Internet keinen Einfluss hat. Zum Einen weil es aufgrund der prinzipiellen Zugänglichkeit für jedermann und fehlender räumlicher Exklusionsmöglichkeiten kaum möglich ist stabile Formen von Selbstorganisation zu etablieren. Vereinfacht ausgedrückt, jeder kann mitmachen, niemand kann ausgeschlossen werden. Das überfordert tatsächlich, aber nur die Selbstorganisation von Kommunikation im Internet. Zum Anderen hat das Internet keinen Einfluß auf Entscheidungsfindungsprozesse, weil viele Entscheidungen noch relativ interaktionsnah getroffen werden. Professionelle Erziehung wird weiterhin in Schulen stattfinden [6], rechtliche Entscheidungen werden in Gerichtsverfahren getroffen, politische Entscheidungen in den Parlamenten, Lebenspartner muss man von Angesicht zu Angesicht kennenlernen. Es ist nicht zu erwarten, dass dies in Zukunft nur noch über das Internet erfolgen wird.
Es gibt zudem auch noch andere Möglichkeiten der Beobachtung 2. Ordnung wie Fachtagungen, Weiterbildungen oder Workshops auf denen man sich mit Kollegen austauschen kann. Das Internet ist nicht die einzige Möglichkeit für Beobachtungen 2. Ordnung. Es darf vermutet werden, dass Face-To-Face-Kontakte ein weiteres wichtiges Kriterium für die Einschränkung von Kontingenz sind. Empfehlungen bekannter Personen besitzen eine höhere Vertrauenswürdigkeit als Empfehlungen von Unbekannten aus dem Internet. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht die Wirtschaft. Kaufen kann man auch über das Internet. Auf das Problem des Möglichkeitsüberschusses ist man bereits aufmerksam geworden. Deswegen gibt es inzwischen Internetdienste, die das Preise-Vergleichen übernehmen - aber nicht die Kaufentscheidung. Die Algorithmen der Verkaufsportale, welche die Produktrecherche und die Käufe ihrer Kunden analysieren um Produktempfehlungen geben zu können, erfüllen ebenso die Funktion Kontingenz einzuschränken. Aber auch hier ist nicht zu erwarten, dass das Internet vollständig die Interaktion von Angesicht zu Angesicht ersetzen wird. Menschen werden aufgrund der höheren emotionalen Intensität beim Kontakt zu anderen Menschen diesem immer den Vorzug geben bevor sie auf technische Möglichkeiten der Kommunikation unter Abwesenden zurückgreifen (Collins 2005, S. 63).

Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen kann davon ausgegangen werden, dass die eingespielten Techniken zur Informationsverarbeitung der Funktionssysteme nicht durch das Internet außer Kraft gesetzt werden. Das Informationsaufkommen und der Informationsumschlag wurden durch das Internet zweifellos erhöht und die Möglichkeiten der Beobachtung 2. Ordnung erweitert. Das zwingt die einzelnen Funktionssysteme vermutlich zu strengeren Konditionalprogammierungen - was nichts anderes heißt als Ablehnungsmöglichkeiten zu vermehren. Desweiteren muss die Abarbeitung verschiedener gesellschaftlicher Probleme aufgrund der internen funktionalen Differenzierung der Gesellschaft nicht einem einzigen System übertragen werden sondern kann auf mehrere Funktionssysteme verteilt werden. Was durch Politik nicht gelöst werden kann, kann möglicherweise durch Religion oder Erziehung gelöst werden. Was durch Wirtschaft nicht gelöst werden kann, kann möglicherweise durch Liebe oder Kunst gelöst werden. In Form funktionaler Differenzierung hat die Gesellschaft als Ganze bereits einen hohen Grad interner Komplexität aufgebaut um mit der durch das Internet entfesselten Informationsflut umgehen zu können.
Auf Entscheidungen wird aber weiterhin überwiegend durch organisierte Interaktionen hingearbeitet. Jede theoretische Position die dem Internet dabei eine dominierende Rolle – und sei sie auch nur negativ durch Überforderung – zuschreibt, übersieht, dass das Internet ein weiteres Kommunikationsmittel aber nicht das einzige Kommunikationsmittel ist. Kommunikation via Internet produziert ein Überangebot an Kommunikationsofferten und hält die verrücktesten Handlungsmöglichkeiten abrufbereit. Ihre Relevanz können sie aber nicht im Internet beweisen, denn für Kommunikation via Internet lassen sich nur schwer stabile Formen der Selbstorganisation von Kommunikation finden. Da der technische Zugang zum Internet im Prinzip jedem offensteht, ist Kommunikation im Internet zu einem hohen Grad chaotisch und wird es auch bleiben. Es gibt aber keinen Grund dies negativ zu bewerten. Chaosproduktion durch das Internet ist in gewisser Weise sogar funktional für die Gesellschaft. Es steht eine beständige Quelle für Irritationen zur Verfügung. Die Bewährungsprobe von Kommunikationsangeboten findet aber außerhalb des Internets statt. Anders ausgedrückt, über das Internet wird Kontingenz produziert, eingschränkt wird sie in sozialen Kontexten außerhalb des Internets. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass der Unterschied zwischen Kommunikation unter Anwesenden und Kommunikation unter Abwesenden als eine Art Relevanz-Filter fungiert der Interaktionen davon entlastet sich auf jede noch so ungewöhnliche Sinnzumutung einlassen zu müssen [7].
Analog dazu müssen die Wirkungschancen von Kritik, sofern sie nur über das Internet verbreitet wird, eher gering eingeschätzt werden. Zwar werden die Möglichkeiten für Kritik durch das Internet erweitert, denn es sind Informationen über alternative Lösungsmöglichkeiten für bekannte Probleme im Internet zugänglich. Damit diese aber in Entscheidungsprozesse einfließen können, ist es notwendig diese auch außerhalb des Internets zu vertreten. Dann kommt es nicht darauf an dass kritisiert wird sondern wie.


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[1] Möchte man an der Notwendigkeit der eigenen Position im Horizont anderer Möglichkeiten festhalten, wird Kontingenz gerne als Beliebigkeit gedeutet. Das entlastet zwar davon die eigene Position ebenfalls als kontingent betrachten zu müssen und einen entsprechenden Plausibilisierungsaufwand zu betreiben. Häufig tendiert die Argumentation dann ins dogmatische um die Gegenposition zu marginalisieren und die eigene als notwendig erscheinen zu lassen.
[2] So kann man Personen, die sich ausschließlich über das Internet informieren, für ihren Idealismus bewundern. Wenn man berücksichtigt, wie das Internet Beobachtbarkeit strukturiert, erscheint dieser Idealismus allerdings reichlich naiv.
[3] Siehe weiterführend zum Thema Komplexität Luhmann 2005a, Luhmann 2005b. Vor diesem Hintergrund besagt die These, dass die Gesellschaft mit Kommunikation nur umgehen kann, wenn es Ablehnungsmöglichkeiten für Kommunikation gibt, im Grunde genommen nur, dass das Gesellschaftssystem interne Komplexität aufbauen muss, damit nicht mehr jedes Element mit jedem verbunden werden kann.
[4] Siehe für die Unterscheidung von Zweckprogrammierung und Konditionalprogrammierung – auch wenn dort noch von Routine- und nicht von Konditionalprogrammen gesprochen wird – Luhmann 2007.
[5] Autoritäre Regime haben die Kontingenz produzierende Funktion der öffentlichen Meinung erkannt und werben weniger für die eigene Position sondern versuchen stattdessen die Beobachtung der politischen Konkurrenz zu verhindern. Alternativlosigkeit begründet am besten die eigene Notwendigkeit.  Internetzensur ist somit ein Versuch zu verhindern, dass Möglichkeiten für Beobachtung 2.Ordnung entstehen.
[6] Hinsichtlich erziehender Kommunikation ist der Konkurrenzkampf zwischen Erziehung durch Lehrer und (Selbst-)Erziehung mit Hilfe der Technik bereits ausgebrochen. Siehe hier. Aber auch in dem Artikel wird deutlich, dass Erziehung nicht ohne interaktionsnahe Formen auskommt.
[7] Luhmanns These, dass mit der technischen Entwicklung der Verbreitungsmedien die Notwendigkeit für räumliche Integration gesellschaftlicher Operationen sinkt (vgl. Luhmann 1997, S. 314), wird damit widersprochen. Zwar wird für Kommunikation über das Internet diese Notwendigkeit räumlicher Integration tatsächlich eingeschränkt - wenn nicht sogar aufgehoben. Wie im Text deutlich geworden sein sollte, gilt dies dann aber auch nur für gesellschaftliche Operationen - also Kommunikation - über das Internet nicht aber für Interaktions- und Organisationssysteme.


Literatur
Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main
Collins, Randall (2005): Interaction Ritual Chains. Princeton
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1995): Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (2000): Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (2005a): Komplexität, in ders: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft. Wiesbaden 5. Auflage, S. 255 - 276
Luhmann, Niklas (2005b): Haltlose Komplexität, in ders: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven. Wiesbaden 3. Auflage, S. 58 - 74
Luhmann, Niklas (2006): Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, in ders.: Beobachtungen der Moderne. Wiesbaden 2. Auflage, S. 93 -128
Luhmann, Niklas (2007): Lob der Routine, in ders: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung. Wiesbaden 5. Auflage, S. 113 - 142

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