Mittwoch, 19. August 2015

Über Amok und Terror



Jetzt erleben wir diese neue Phase des alten Kampfes, der nicht mehr Kampf der heute vom Leben gefüllten Form gegen die alte, leblos gewordene ist, sondern den Kampf des Lebens gegen die Form überhaupt, gegen das Prinzip der Form.
Georg Simmel*
           

Sterben ist nichts Besonderes. Das Knifflige ist das Leben.
Red Smith


Das Jahr 2015 ist noch längst nicht vorbei, aber bereits jetzt kann man wohl ohne zu übertreiben sagen, dass dieses Jahr unter den Zeichen von Amok und Terror steht. Man denke nur an den blutigen Überfall auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« am 7. Januar 2015. Am 24. März 2015 wurde die Germanwings-Maschine 4U9525 durch den Copiloten in voller Absicht zum Absturz gebracht und kostete weitere 149 Menschen das Leben. Am 17. Juni 2015 wurden neun Mitglieder einer schwarzen Kirchengemeinde in Charleston von einem 21jährigen Weißen erschossen. Als Motiv gab er Rassismus an. Am 26. Juni 2015 ereigneten sich an einem Tag Anschläge in Frankreich, Tunesien und Kuweit mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund. Rätsel gibt speziell der Fall von Saint-Quentin-Fallavier nahe Lyon auf, da die Tat viele Merkmale islamistischer Anschläge trägt und der Täter sich zunächst auf den Islam berief, später aber diese Angabe wieder revidierte. Es steht zu befürchten, dass sich zum Jahresende noch weitere Ereignisse dieser Art aufzählen lassen. Betrachtet man darüber hinaus ähnliche Ereignisse, wie die islamistische Anschlagsserie in Midi-Pyrénées im Jahr 2012 so scheint es immer schwieriger zu werden Terroranschläge und Amoktaten voneinander zu unterscheiden. Die Vorbereitung und die Ausführungsmodi werden ähnlicher und man kann nicht genau sagen, ob es sich bei Amokläufen um privatistischen Terror einzelner Personen und bei Selbstmordanschlägen um ideologisch verbrämte Amokläufe handelt.

Die Grenzen scheinen zu verschwimmen. Die bekannten Kategorien zur Beobachtung solcher Phänomene erlauben anscheinend keine eindeutige Bestimmung mehr. Auf der Grundlage dieses Eindrucks wird nun von einigen Beobachtern die Vermutung geäußert, dass es keinen Unterschied mehr zwischen Amok und Terror gibt. Einzeltäter, wie Amokläufer und Terroristen, werden als »Hybride« (Kron/Heinke 2011, S. 284) bezeichnet, um auf das Versagen der bekannten Kategorien aufmerksam zu machen. Sofern man nicht über die reine Deskription hinausgeht, ist dieser Eindruck durchaus nachvollziehbar. Bedeutet das aber schon, dass diese beiden Kategorien ihren Zweck verloren haben? Funktionieren sie wirklich nicht mehr zur Beobachtung der sozialen Wirklichkeit? Aus einer solchen Schlussfolgerung würden sich zwei Konsequenzen ergeben. Man kann dann entweder behaupten, es gäbe weder Amok noch Terror oder es gäbe sowohl Amok als auch Terror. Aber was wäre mit diesen Lösungen gewonnen?

Diese Frage wird umso dringlicher, wenn nicht ersichtlich ist, welche Kategorien an ihre Stelle treten sollen. Die Rede von »Hybriden« scheint lediglich eine Verlegenheitslösung zu sein, die sich mit einem Missstand abgefunden hat. Sie weist lediglich darauf hin, dass sich bestimmte Unterscheidungen offenbar nicht mehr dazu eignen, einen Unterschied zu markieren, der einen Unterschied macht. Gelöst wird dieses Problem durch die Rede von »Hybriden« jedoch nicht. Vielmehr werden unter diesem Begriff die verschwimmenden Kategorien zusammengezogen ohne dass dadurch das Gemeinsame im Verschiedenen bezeichnet wird. Das Gemeinsame scheint sich im Verschiedenen zu erschöpfen. Mit der Rede von »Hybriden« ist keine Abstraktions- bzw. Generalisierungsleistung verbunden, ein Erkenntnisgewinn nicht ersichtlich. Sie scheint stattdessen erst das herbeizuführen, von dem angenommen wird, das es ein Merkmal der sozialen Wirklichkeit ist. 

Daher ist der Eindruck, dass vormals distinkte Kategorien zu verschwimmen scheinen, noch längst kein Hinweis auf neue Qualitäten der beobachteten Phänomene, sondern lediglich ein Hinweis auf die Schwachstelle der beobachtenden Theorie, die nicht mehr in der Lage ist die Komplexität der beobachteten Phänomene angemessen begrifflich zu erfassen. Vielleicht müssen gar keine neuen Kategorien erfunden, sondern die alten einfach nur sorgfältiger ausgearbeitet werden? Zu einfach gestrickte Kategorien werden sehr schnell durch den Gegenstand, den sie bezeichnen sollen, ad absurdum geführt. Diesem Problem kann man nur Herr werden, wenn man die Beobachtungsmittel anpasst. Sei es durch Differenzierung der Bezeichnung zu einer Beschreibung, sei es durch das Oszillieren zwischen zwei Begriffen (vgl. Luhmann 1992, S. 124), um beide in Abhängigkeit voneinander in einer konditionierten Koproduktion (vgl. Spencer Brown 1997 [1969], S. IXf.) zu differenzieren. Letzteres soll im Folgenden versucht werden. Hier wird der große Vorteil der soziologischen Systemtheorie zum Tragen kommen, nämlich dass man die Phänomene mit einer komplexen Erwartungshaltung konfrontieren und die interessierenden Phänomene methodisch kontrolliert de- und rekonstruieren kann.


Die Machtlosigkeit der Politik

Bei Amokläufen und Selbstmordanschlägen handelt es sich um Gewalttaten. Sobald physische Gewalt im Spiel ist, wird im Kommunikationsmedium der Politik, nämlich Macht, operiert. Sowohl Terroranschläge als auch Amokläufe fordern die Exekutive heraus – egal ob es ein staatliches Gewaltmonopol gibt oder nicht. Die Aufgabe eines modernen Staates ist es dafür zu sorgen, dass die Bürger ihre Interessen verfolgen können ohne dabei auf physische Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen zurück zu greifen. Die wirksamste Prävention gegen gewalttätiges Verhalten ist normalerweise eine effektive Aufklärung und Strafverfolgung. Auf diese Weise wird den Bürgern die Botschaft vermittelt, dass das eigene Handeln nicht ohne Folgen bleibt. Damit werden, entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis, keine Straftaten verhindert. Unter dieser Bedingung wird zunächst nur das Handeln einer Person als Ergebnis ihrer Entscheidungen beobachtbar. Selbst bei widrigen Rahmenbedingungen, die eine bestimmte Handlungsoption für eine Person alternativlos erscheinen lassen, kann auf diese Weise Verantwortung zugerechnet werden. Denn es lassen sich immer auch Beispiele finden, bei denen die Betroffenen unter ähnlichen Bedingungen anders gehandelt haben. Ein solcher Vergleich zeigt, dass man niemals von Alternativlosigkeit sprechen kann. Bei dieser wahrgenommenen Alternativlosigkeit handelt es zunächst um den subjektiven Eindruck des Betroffenen. Daraus ergibt sich die sozialpsychologische Fragestellung, wie konnte im Kontext alternativer Handlungsmöglichkeiten eine bestimmte Möglichkeit für eine Person als alternativlos erscheinen? Eben weil unterschiedliche Personen in derselben Situation unterschiedlich Handeln können, wird eine Handlung als individuelle bzw. persönliche beobachtbar, selbst wenn die betreffende Person nicht dieselben Handlungsoptionen kannte wie eine andere. Deswegen gilt im Recht schon lange, Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Denn derjenige hätte es besser wissen können. Auch wenn hinterher die Tat im Mittelpunkt steht, entscheidend ist vielmehr, welche Möglichkeiten nicht genutzt wurden. Es geht also um eine Art der Unterlassung – egal ob dies bewusst oder unbewusst geschah.

Die beschriebene Form der Prävention funktioniert über Feedback – genauer, durch das Wissen über die Möglichkeit negativen Feedbacks. Die vermittelte Botschaft verfängt aber nur, wenn die Täter nach der Tat noch am Leben sind und befürchten müssen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen zu werden. Dies ist jedoch bei Amokläufen und islamistischen Selbstmordanschlägen in der Regel nicht der Fall. Die Aussicht für ihre Taten bestraft zu werden, schreckt die Täter nicht von der Ausführung ab. Im Gegenteil, der Tod wird nicht als zu vermeidende Option gesehen, sondern billigend in Kauf genommen. Moderne Staaten stehen solchen Ereignissen daher machtlos gegenüber. Darin besteht das Problem, mit dem sich die moderne Gesellschaft durch die Phänomene Amok und Terror konfrontiert sieht. Die politische Versuchung ist groß diese Machtlosigkeit durch stärkere Präventionsmaßnahmen zu kompensieren. In der Konsequenz wäre jedoch die einzig wirksame Präventionsmaßnahme eine totale Überwachung der Bürger. Eine Maßnahme, die sich allerdings schon technisch nicht umsetzen lässt [1]. Es wäre der unmögliche Versuch eine unkontrollierbare Zukunft zu kontrollieren. Und selbst wenn dieser unmögliche Versuch gelingen würde, hätte man keine Zukunft mehr, weil ein solcher Versuch in jedem Fall darauf hinauslaufen würde, die Unterschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu eliminieren. Das Ergebnis wäre die vollständige Determination der Gesellschaft. Sie würde dahingehend verändert, sich nicht mehr zu verändern. Sie wäre nur noch ein starrer, monolithischer Block – und die Menschen ebenfalls. Der illusorische Charakter solcher Vorschläge zeigt die dahinter stehende Hilflosigkeit. Es sieht daher so aus als wäre die moderne Gesellschaft solchen Gewalttaten schutzlos ausgeliefert. Das ist eine beunruhigende Diagnose. 

Diese Diagnose ändert sich auch nicht, wenn man bestreitet, dass es einen Unterschied zwischen Amok und Terror gibt. Das Problem bleibt trotzdem dasselbe. Den Unterschied zwischen Amok und Terror zu negieren, steigert allenfalls das Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit, denn man verschenkt damit die Erkenntnismittel, die ein sinnhaftes Verstehen und eine ursächliche Erklärung  (vgl. Weber 1984 [1921], S. 19) ermöglichen. Beides sind notwendige Voraussetzungen für erfolgreiche Interventionen. So unzureichend die Mittel der Erkenntnis und das damit produzierte Wissen über Phänomene wie Amok und Terror auch sein mögen, die Ablehnung der Erkenntnismittel ohne einen adäquaten Ersatz anbieten zu können, hilft in einer solchen Situation erst recht nicht weiter.

Kaum zu bestreiten ist, dass beide Phänomene auf ein Problem hinweisen, für das eigentlich die Politik zuständig wäre, ihr aber jegliche Mittel fehlen, die Bürger wirksam davor zu schützen oder die Taten nachträglich zu ahnden. Es scheint als weisen diese Phänomene nicht nur auf die Grenzen der Politik hin, sondern darüber hinaus auch auf die Grenzen der politischen Theorie. Wenn die Politik aus dem Spiel ist, handelt es sich um ein gesellschaftliches Problem und möglicherweise gibt es auch kein Funktionssystem der Gesellschaft, das dieses Problem allein lösen könnte. Das zugrundeliegende soziale Problem ist so allgemein, dass es praktisch in jeder Situation eine Rolle spielt. Möglicherweise ist hier eher die Soziologie als die Politikwissenschaft gefragt. Und so möchte ich im Folgenden den Versuch einer soziologischen Analyse wagen. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass Problemfelder behandelt werden, für die traditionell die Politikwissenschaft zuständig ist. Nichts desto trotz gehe ich von der Annahme aus, dass das Problem, auf das Phänomene wie Amok und Terror hinweisen, kein originär politisches, sondern allgemeiner ein soziales Problem ist. Unter sozialen Problemen verstehe ich alle Probleme, die sich aus dem menschlichen Zusammenleben ergeben

Man könnte sich lange darüber streiten, ob das Problem, um das es geht, nun als politisch oder sozial bezeichnet werden sollte. Mithin sind bereits theoretische Ansätze verfügbar, die das im Folgenden vorgestellte gesellschaftliche Problem als politisches behandeln. Das Problem bei diesen Ansätzen ist jedoch, dass sie aufgrund ihrer getroffenen Vorannahmen immer wieder nur eine einzige Lösung für jedes soziale Problem anbieten können: den Staat. Der Staat kann jedoch nicht die Lösung für jedes soziale Problem sein. Wenn allerdings keine andere Lösung sozialer Probleme mehr denkbar ist, weil sie für politische Probleme gehalten werden, wären damit die ideologischen Grundlagen für ein totalitäres Politik- und Staatsverständnis gelegt. Um dieser Gefahr zu entgehen, wird gewalttätiges Verhalten hier zunächst nicht als politisches, sondern allgemeiner als soziales bzw. gesellschaftliches Problem behandelt. Durch diesen Ansatz soll deutlich werden, dass die Kompetenz zur Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten nicht ausschließlich beim Staat liegt. Vielmehr hat die moderne Gesellschaft bereits eine Menge Möglichkeiten zur Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten entwickelt. Mit einem engen Verständnis von sozialen Problemen als politische Probleme kommen diese Lösungen jedoch nicht in den Blick. Bei dem Glauben, dass alles politisch sei, handelt es sich daher um etwas, was man mit Niklas Luhmann als Erkenntnishindernis bezeichnen kann (vgl. Luhmann 2009 [2005], S. 32f.).

Mit Hilfe der soziologischen Systemtheorie Luhmanns lässt sich das soziale Problem dagegen folgendermaßen beschreiben: es handelt sich um die kommunikative Anschlussfähigkeit einer jeden Person – was in der Soziologie in der Regel unter den Stichworten »Inklusion« und »Exklusion« behandelt wird [2]. Wenn eine Person in einer bestimmten Situation nicht als relevant betrachtet wird – was sich daran zeigt, dass ihr keine Möglichkeit gegeben wird, sich zu beteiligen –, kann das unter Umständen von der ausgeschlossenen Person als vollständige Ablehnung verstanden werden. Obwohl Exklusionen in Bezug auf Personen eigentlich die Regel und Inklusionen die Ausnahme sind – in einem Moment kann man immer nur in einer Situation inkludiert sein und ist zugleich aus allen anderen exkludiert –, kann das Ausgeschlossen-Sein auf Dauer frustrieren, wenn es überhaupt nicht gelingt Anschluss zu finden. Dauerhafte Nicht-Beachtung kann dazu führen, dass sich Menschen nutzlos, unerwünscht und minderwertig fühlen. Dabei strebt jeder danach als Person nicht als nutzlos, unerwünscht und minderwertig zu erscheinen, um sich auch nicht so fühlen zu müssen. Mit anderen Worten, jeder Mensch strebt danach mit Personen zu interagieren, die einen genauso sehen, wie man selbst. Die Frage ist, was passiert, wenn man keine Personen findet, die einen genauso sehen, wie man selbst? Meine These lautet, Amokläufe und Terroranschläge sind zwei verschiedene Möglichkeiten auf diese als total empfundene Ablehnung zu reagieren und zu versuchen die wahrgenommene Inferiorität zu kompensieren. Wenn sich eine Person ausgeschlossen fühlt, dann kann physische Gewalt für sie als eine attraktive Möglichkeit erscheinen ihr Ausgeschlossen-Sein zu kompensieren.

Ohne die Unterscheidung von Amok und Terror würde man sich die Möglichkeit nehmen, zu beobachten, warum für Amokläufer und Terroristen Gewalt als einzige Möglichkeit in Frage kommt, um sich gegen das als ablehnend wahrgenommene soziale Umfeld zu wehren. Beide greifen zum Mittel der Gewalt. Aber für beide erscheint die Gewalt aus unterschiedlichen Gründen notwendig zu sein. Beide Tätergruppen rechtfertigen die Gewalt gegenüber sich selbst und anderen auf unterschiedliche Weise. Diese Rechtfertigungen lassen sich nur anhand der Vorgeschichte der Täter verstehen. Es reicht also nicht aus, sich lediglich auf die schrecklichen Ereignisse zu konzentrieren, durch die man überhaupt auf die Täter aufmerksam wird. Dementsprechend lassen sich auch die Begriffe »Amok« und »Terror« nur sinnvoll rekonstruieren, wenn man die Vorgeschichte der Täter  berücksichtigt, die beide Tätergruppen dazu bringen zu solch radikalen Mitteln zu greifen. Es soll jedoch im Folgenden nicht darum gehen persönliche Interaktionsgeschichten zu rekapitulieren. Ich möchte mich darauf konzentrieren eine Theorie über das allgemeine Muster solcher Entwicklungen vorzustellen. Da das Problem, für das Amok und Terror hier als Lösungen betrachtet werde, ein gesellschaftliches ist, erlaubt dies eine gesellschaftstheoretische Einordnung dieser Phänomene. Vor diesen Hintergrund lässt sich zeigen, dass einem modernen Staat kaum Möglichkeiten zur Intervention gegeben sind und dass daher jeder einzelne bei der Prävention solcher Taten gefordert ist.


Die Anschlussfähigkeit der Person als gesamtgesellschaftliches Problem

Das soziale Problem für das Amok und Terror hier als Lösungen begriffen werden, wurde bereits vorgestellt. Es ist die kommunikative Anschlussfähigkeit der Menschen als Personen. Ich möchte nun noch etwas näher auf die sozialstrukturellen Aspekte dieses Problems eingehen und den Unterschied zwischen modernen und vormodernen Inklusionsmodi herausarbeiten. Der Unterschied zwischen diesen beiden Inklusionsmodi wird die theoretische Grundlage zur Darstellung der Anschlussprobleme liefern, mit denen Amokläufern und Terroristen vor ihren Taten konfrontiert waren.

Mit Hilfe der soziologischen Systemtheorie lässt sich die moderne Gesellschaft als funktional differenziert beschreiben (vgl. Luhmann 1997, S. 743ff.). Mit dem Begriff »Gesellschaft« ist die Gesamtheit der stattfindenden Kommunikation gemeint (vgl. Luhmann 1997, S. 78ff.). Die Gesellschaft als Ganze ist in sich selbst in verschiedene Funktionssysteme differenziert. Zu diesen Funktionssystemen zählen Politik, Wirtschaft, Recht, Kunst, Wissenschaft, Religion, Erziehung, Liebe und soziale Hilfe. Jedes dieser Funktionssysteme hat sich auf die Lösung eines bestimmten sozialen Problems spezialisiert. Jedes dieser sozialen Probleme stellt den Katalysator zur Ausdifferenzierung eines Funktionssystems dar [3]. Abweichend von radikal konstruktivistischen Ansätzen gehe ich davon aus, dass es diese sozialen Probleme wirklich gibt. Andernfalls würde man die Existenz anderer Menschen bestreiten. Man kann die sozialen Probleme unterschiedlich beschreiben bzw. konstruieren. Aber die Beschreibung eines Problems wird den Erfolg der Lösung beeinflussen. Am Erfolg oder Misserfolg der jeweiligen Lösungen, die in Abhängigkeit von der Problemkonstruktion entwickelt wurden, zeigt sich die Wirklichkeit des zu lösenden Problems unabhängig von seiner Beschreibung. Die jeweilige Beschreibung wird entweder zur erfolgreichen Lösung beitragen oder das Problem bleibt bestehen und verschärft sich gegebenenfalls. Für zwischenmenschliche Beziehungen bedeutet das, Konflikte werden entweder gelöst, schwelen vor sich hin oder eskalieren weiter. Die jeweilige Beschreibung kann zu einer realistischen, aber auch zu einer illusionären Wahrnehmung des Problems führen, was dann wiederum ein realistisches oder ein illusionäres Handeln erlaubt, das wiederum die entsprechende Wahrnehmung bestätigt und verstärkt (vgl. Laing, 1976 [1960], S. 68ff.).

Für die weitere Gedankenführung ist noch ein weiterer Aspekt relevant. Jedes der gesellschaftlichen Funktionssysteme regelt nach selbstentwickelten Kriterien, den Konditionalprogrammierungen, ob und wie die beteiligten Personen für die Kommunikationsprozesse relevant werden. Keines der verschiedenen sozialen Probleme besitzt einen Vorrang vor dem anderen. Jeder Mensch kann potentiell mit jedem dieser sozialen Probleme konfrontiert werden und dann unter gewissen Konditionen die Lösungen des jeweiligen Funktionssystems in Anspruch nehmen. Die sozialen Probleme lassen sich aufgrund ihrer Gleichwertigkeit nicht mehr in eine hierarchische Rangordnung bringen. Daher ist die Lösung keines dieser Probleme wichtiger oder dringlicher als die anderen. Dies gilt in der Konsequenz auch für die Funktionssysteme der Gesellschaft. Aufgrund dieser formalen Gleichheit wird die moderne Gesellschaftsstruktur als eine Heterarchie bezeichnet. Es gibt kein oberstes Prinzip mehr, dass die Ordnung der Gesellschaft garantiert. Die jeweils geltenden Regeln können von Situation zu Situation andere sein, je nachdem mit welchem sozialen Problem die beteiligten Personen konfrontiert sind. Die Konditionalprogrammierungen legen fest, welche mitgeteilten Informationen in einer Situation für das Erleben und Handeln der Beteiligten relevant sind und welche nicht. Die Aufmerksamkeit der Beteiligten richtet sich auf die relevanten Informationen, denn an ihnen lassen sich weitere Anschlussmöglichkeiten erkennen. Daher kann man auch sagen, die Lösungen der Funktionssysteme bestehen darin zu regeln in welcher Form jemand Aufmerksamkeit in einer bestimmten Situation erlangen kann. Dafür gibt es die Rollen der Leistungserbringer und der Leistungsempfänger. Beide Rollen ermöglichen den Menschen sich unter funktionsspezifischen Kriterien an verschiedenen Situationen zu beteiligen. Selbst in funktional unspezifizierten Situationen gibt es eine Rollenverteilung, wenn auch zunächst keine explizite. Wenn eine Person situativ inkludiert wird, dann ist sie zugleich aus allen anderen Situation exkludiert. Und wenn Exklusionen die Regel und Inklusionen die Ausnahme sind, dann bedeutet das weiter, dass die Anschlussfähigkeit jeder Person ständig bedroht ist. Der weitere Anschluss ist ungewiss. Jede momentane Inklusion muss daher dazu genutzt werden persönliche Attraktivität für weitere, zukünftige Inklusionen bzw. Anschlüsse sicher zu stellen.

Der wesentliche Unterschied zu früheren Differenzierungsformen der Gesellschaft besteht darin, dass sich Inklusionen heute stärker nach Kriterien vollziehen, die auf die Form der Beteiligung einer Person abstellen. Es geht also darum, wie gut eine Rolle ausgefüllt wird, die man in einer Situation annimmt. Vor dem Übergang zur Moderne wurde die Inklusion stärker über zugeschriebene Merkmale wie biologische, geographische oder standesmäßige Herkunft geregelt. Die Soziologie hat dafür die Kategorien von zugeschriebenen und leistungsbezogenen Merkmalen entwickelt, um auf diesen Unterschied aufmerksam zu machen. Sie treffen allerdings nicht ganz den Aspekt, den ich für entscheidend halte. Biologische oder geographische Herkunft sind Merkmale, die sich nicht verändern lassen. Man kann seine Herkunft verleugnen, man kann sie aber nicht ändern. Das Verhalten einer Person kann sich dagegen ändern. Ich halte daher das Kriterium der Veränderbarkeit für den entscheidenden Unterschied im Vergleich von modernen und vormodernen Gesellschaften. Wurde eine Person früher überwiegend durch unveränderliche Merkmale inkludiert, spielen heute vorwiegend veränderliche Merkmale eine Rolle.

Wie sich jemand an der Kommunikation beteiligt, lässt sich nur anhand seines Verhaltens beobachten. Unveränderliche Merkmale, wie biologische und geographische Herkunft oder auch der religiöse Glaube, sind daher ungeeignet für die Beobachtung menschlichen Verhaltens, denn sie berücksichtigen nicht die Form der Beteiligung. Dafür dass man Deutscher oder Muslim ist, kann man sich nichts kaufen. Auch für die Beurteilung, ob jemand in der Lage ist als Bauarbeiter, Bäcker, Angestellter, Wissenschaftler oder Arzt zu arbeiten, spielen solche Attribute keine Rolle. Für die Ausübung eines Berufs ist es egal, welche biologische oder geographische Herkunft man hat. Ebenso wenig wird man für seine Nationalität oder seinen Glauben geliebt. Man wird als Person geliebt. Die Indifferenz gegenüber solchen unveränderlichen Merkmalen gilt letztlich für jede Kommunikation. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass unveränderliche Merkmale in der Moderne überhaupt keine Rolle mehr für die persönliche Selbstdarstellung spielen. Das tun sie weiterhin. Sie treten aber im Verhältnis zu den veränderbaren Merkmalen, die anhand der persönlichen Beteiligung sichtbar werden, in den Hintergrund. Sie werden eher zu einem persönlichen Accessoire. In dieser Form sind unveränderliche Merkmale auch heute noch für die Selbstdarstellung akzeptiert. Gleichwohl geraten alle Versuche, Unveränderlichkeiten zu behaupten, die ein Anrecht auf bestimmte Leistungen der modernen Gesellschaft begründen sollen, unter Rechtfertigungs- bzw. Legitimationsdruck. Für die Inklusion unter modernen Bedingungen haben unveränderliche Merkmale wie geographische, biologische oder standesmäßige Herkunft ihre Legitimität verloren.

Wenn jemand aufgrund seiner Religion z. B. fünfmal am Tag beten muss und deswegen gravierende Probleme hat eine Arbeit zu finden, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, weil dies mit den Arbeitszeiten einer normalen Vollzeitarbeit nicht vereinbar ist, so ist dies kein Problem, dass man der Gesellschaft anlasten kann. Es liegt allein an der persönlichen Entscheidung für einen bestimmten Lebensstil. Immerhin könnte die betroffene Person einsehen, dass die Religion selbst oder zumindest die Vorschrift fünfmal am Tag zu beten zu einem gravierenden Hindernis wird, wenn es darum geht seinen Lebensunterhalt in einer Gesellschaft zu bestreiten, die es ihren Bürgern überlässt ihre Bedürfnisse eigenständig zu befriedigen, indem sie durch Erwerbsarbeit das nötige Geld dafür verdienen. Zwar können der Lebensstil und die Anforderung diesen Lebensstil finanziell zu unterhalten, wie in diesem Fall, miteinander kollidieren. Es gibt heute jedoch auch unzählige Möglichkeiten solche Probleme zu lösen und ein passendes Arrangement zu finden. So könnten gläubige Moslems dieses Problem lösen, indem sie von einer strengen Auslegung der Religion abrücken würden, um in den Genuss der Vorteile der modernen Gesellschaft zu kommen, oder sich eine Arbeitsstelle suchen, bei der die Arbeitszeiten nicht mit den religiösen Gewohnheiten in Konflikt geraten. 

Moderne Inklusionsmodi und ein persönlicher Lebensstil können miteinander in Konflikt geraten und die Inklusion behindern. Es handelt sich jedoch nicht um einen unlösbaren Konflikt, der die Teilnahme an moderner Kommunikation völlig ausschließt. Wenn man allerdings unter modernen Kommunikationsbedingungen weiterhin an der Erwartung festhält, dass man aufgrund bestimmter unveränderlicher Merkmale, wie der Glaube oder die biologische Abstammung, Anrechte auf bestimmte Leistungen der Funktionssysteme hat, kann man sehr leicht enttäuscht werden. Aus dieser Enttäuschung speisen sich die Ressentiments von rechten, linken und religiösen Protestbewegungen, die sich gegen die Moderne richten. Aufgrund bestimmter sich selbst zugeschriebener unveränderlicher Merkmale, wie z. B. Deutscher, Arbeiter oder Muslim, werden die Beteiligungsmöglichkeiten an moderner Kommunikation beschränkt, was meistens zu gravierenden materiellen und kognitiven Nachteilen führt. Für diese Nachteile machen die Betroffenen dann die moderne Gesellschaft verantwortlich. Genauso wie die Betroffenen sich von der Gesellschaft abgelehnt fühlen, so lehnen sie dann die Gesellschaft ab, die aus ihrer Perspektive für ihren Misserfolg und ihr Unglück verantwortlich ist.

Entsprechend suchen die Betroffenen ihr Heil in alternativen Gesellschaftsentwürfen, welche die eigenen unveränderlichen Merkmale und den damit verbundenen Lebensstil bestätigen. Auffällig an diesen alternativen Gesellschaftsentwürfen ist, dass sie im Vergleich zu der heterarchen Struktur der modernen Gesellschaft stark hierarchisch strukturiert sind. Das unveränderliche Merkmal nimmt darin eine dominierende Funktion an der Spitze der Hierarchie ein, um die sozialen Beziehungen der Mitglieder zu organisieren und zu regeln. Die Beziehungen der Menschen zueinander sind als Über- und Unterordnungsverhältnisse gestaltet. Mit anderen Worten, es wird eine vormoderne Gesellschaftsform präferiert, die zumeist eine stratifikatorische Differenzierung (vgl. Luhmann 1997, S. 613) aufweist. Egal welche Protestbewegung man betrachtet, die sich auf ein unveränderliches Merkmal beruft, es handelt sich immer um einen Protest gegen die Inklusionsmodi der Moderne. Je nach Menschenbild kann das Mensch-Sein sogar selbst zu einem unveränderlichen Merkmal werden. Die nationalen und internationalen Konflikte werden aus dieser ständig bestehenden Exklusionsgefahr gespeist. Man könnte auch sagen, die Weltgesellschaft trägt einen inneren Konflikt zwischen Moderne und Vormoderne bzw. zwischen heterarchen und hierarchischen Gesellschaftsentwürfen aus. Es handelt sich dabei um einen Streit um die richtige Lösung für das Exklusionsproblem, wobei die Beteiligten jeweils die nicht-präferierte Lösung als Subversionsversuch der präferierten Lösung betrachten.

Aufgrund dieser Beobachtung gehe ich nicht davon aus, dass die moderne funktional differenzierte Gesellschaft gegenwärtig bereits voll realisiert ist. Vielmehr befindet sich die Evolution der Gesellschaft immer noch im Übergang von der Vormoderne zur Moderne. Ich habe sogar meine Zweifel, ob dieser Übergang im Hinblick auf die Weltgesellschaft jemals vollständig vollzogen werden wird, denn es wird vermutlich immer Exklusion und damit exkludierte Personen geben oder auch nur solche, die sich ausgeschlossen fühlen. Im Anbetracht der Geschichte der letzten 200 Jahre scheint es eine Korrelation zwischen dem Exklusionsgrad einer Person und der Präferenz für hierarchische Gesellschaftsentwürfe zu geben. Dies legt die Vermutung nahe, dass, solange sich Personen auch nur exkludiert fühlen und für sich keine Beteiligungsmöglichkeiten mehr nach den Regeln der Funktionssysteme für sich sehen, solange wird es auch die Hoffnung auf ein besseres Schicksal in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaftsform, welche ein unveränderliches Merkmal zur Basis der Gemeinschaftsbildung erhebt, geben.

Aus diesen Überlegungen leite ich die These ab, dass sich der Terrorismus rechter, linker und islamistischer Prägung im Rahmen dieses Konflikts zwischen Vormoderne und Moderne verstehen lässt. Vormoderne Lebensentwürfe, die sich auf unveränderliche Merkmale gründen, sehen sich unter modernen Kommunikationsbedingungen gravierenden Anschlussproblemen ausgesetzt und entsprechend aggressiv reagieren die Betroffenen auf die Ausschlusstendenzen. Bei den Attentätern, die sich auf eine islamistische Ideologie berufen, fällt auf, dass sie nicht von Anfang an streng gläubige Muslime waren, sondern sie durchlaufen einen Radikalisierungsprozess, in dessen Verlauf sie erst eine politische Semantik kennenlernen, mit deren Hilfe sie ihre persönlichen Anschlussprobleme zu einem Kollektivschicksal umdeuten können. Die Schuld wird dann bei den Menschen gesucht, die sie der westlichen, modernen Gesellschaft zurechnen. Die gehegte Erwartung lautet, die müssen sich ändern, man selbst nicht. Und wenn die sich nicht ändern, dann muss man sie mit Gewalt dazu zwingen oder vernichten. Die Ironie dabei ist – und das trifft wieder auf alle Bewegungen zu, die sich über unveränderliche Merkmale definieren –, dass die moderne Gesellschaft und die Menschen dahingehend verändert werden sollen, sich nicht mehr zu verändern. Da der moderne Gegner so übermächtig erscheint, muss man ihm zeigen, dass man bereit ist für die eigene Unveränderlichkeit zu sterben. Obwohl jeder einzelne Selbstmordattentäter nicht mehr in der Lage sein wird, die Vorteile eines Sieges auszukosten, geht man zumindest als Märtyrer in die Geschichte ein. Man ist also nicht umsonst gestorben. Die Ideologie liefert die Rechtfertigung dafür im eigenen Tod einen Sinn zu sehen. Für die Täter stellt ihr Selbstmord eine Kriegshandlung dar. Sie opfern sich, damit zumindest andere Angehörige der Gemeinschaft ungehindert nach ihren Vorstellungen leben können. Zum Terror werden solche Selbstmordanschläge durch ihre Willkürlichkeit und Rücksichtlosigkeit gegenüber möglichen Opfern. Es kann jeden treffen. Auf diese Weise wird versucht die bedrohte Gesellschaft zu einer kollektiv bindenden Entscheidung zu motivieren. Terrorismus stellt daher einen Versuch dar, mit physischer Gewalt die Konditionalprogrammierungen der modernen Funktionssysteme zu suspendieren, um so die Inklusion ganzer Gruppen zu erreichen. Deswegen muss das ideologisch gerechtfertigte Selbstmordattentat unabhängig von der persönlichen Geschichte des Täters als politische Mitteilung verstanden werden, auf die auch die Politik reagieren muss.

In diesem Punkt sehe ich den wichtigsten Unterschied zwischen Selbstmordattentätern und Amokläufern. Amokläufer beziehen sich nicht auf eine politische Ideologie. Ihre Motivation für den Amoklauf ziehen sie allein aus ihrer persönlichen Geschichte erfolgloser Beteiligungsversuche. An anderer Stelle habe ich ausführlich den Entfremdungsprozess beschrieben, der durch die erfolglosen Beteiligungsversuche und der dadurch angestoßenen Exklusionsdynamik verstärkt wird. Ich gehe davon aus, dass die psychologischen Prozesse, die Amokläufer und Selbstmordattentäter bis zu der eigentlichen Tat durchlaufen, ähnlich sind. Während jedoch Amokläufer am Ende dieses Prozesses weitestgehend isoliert sind, finden Personen, die durch eine politische Ideologie oder Religion aufgefangen werden, wieder Anschlussmöglichkeiten. Amokläufer rebellieren mit ihrer Tat nicht gegen die Gesellschaft, sondern nur gegen das soziale Umfeld, das ihnen aus ihrer Sicht keine Chance gibt. Die negativen Erfahrungen haben ihre Ablehnung soweit verstärkt, dass sie nicht mehr in der Lage sind alternative Beteiligungsmöglichkeiten für sich zu finden. Als einzige Alternative bleibt die radikale Negation der sozialen Umwelt. Und mit der Aussicht auf ein sinnloses Leben, das keine sinnvollen Tätigkeiten und damit auch keine Chancen positiv aufzufallen bereithält, macht der eigene Tod plötzlich einen Sinn. Zugleich setzen sie sich mit der Tat ein Denkmal und erreichen auf diese Weise, dass sie im Tod mehr Beachtung erhalten als es ihnen zu Lebzeiten jemals vergönnt war. Sie können sicher sein, dass man sich nun an sie erinnern wird. Deswegen kann der Amoklauf trotz der Gewalt nicht als eine politische Mitteilung verstanden werden. Ebenso wenig versuchen Amokläufer die Beteiligungsregeln der gesellschaftlichen Funktionssysteme zu unterlaufen. Indem sie sich am Schluss zumeist selbst richten, bestätigen sie nochmals die Beteiligungsregeln ihres sozialen Umfeldes. Mit ihrem Selbstmord kapitulieren sie lediglich vor ihnen, weil sie ihnen nicht genügen können. Der Amoklauf ist deswegen auch kein Versuch für eine andere Gesellschaft zu kämpfen. Es ist der letzte Versuch des Täters sein Gesicht zu wahren, das er zumindest aus seiner Sicht bereits verloren hat.

Festzuhalten bleibt zunächst Folgendes. Nicht die Anschlussfähigkeit von Personen an sich ist das Problem, sondern wie diese Anschlussfähigkeit einer Person hergestellt wird. Dafür spielt die Selbstdarstellung und die dadurch beobachtbaren veränderlichen und unveränderlichen Merkmale eine entscheidende Rolle. Unter Veränderbarkeit verstehe ich Lern- und Entwicklungsfähigkeit. Gerade das kompromisslose Bestehen auf unveränderlichen Merkmalen kann zu einer Lern- und Entwicklungsblockade führen, wenn es nicht sogar zu einer regressiven Entwicklung – zunächst psychisch, aber möglicherweise auch sozial – kommt. In der modernen Gesellschaft stören solche vormodernen Selbstdarstellungsformen massiv die zwischenmenschlichen Beziehungen. Boten unveränderliche Merkmale in vormodernen Gesellschaften noch ein hohes Maß an sozialer Sicherheit, kann inzwischen das Konflikt- und damit auch das Unsicherheitspotential solcher Merkmale kaum noch ignoriert werden. Gerade dies hat im Übergang zur Moderne zu einem veränderten Menschenbild geführt, dass den Menschen durch seine Möglichkeiten, also das, was er tun kann, begreift und nicht durch das, was er ist. Der Möglichkeitsraum wird durch die bereits realisierten Möglichkeiten aller Menschen gebildet und begrenzt. Was jedoch nicht heißt, dass jeder Mensch in der Lage wäre alle diese Möglichkeiten zu realisieren. Gleichwohl können die Grenzen des Möglichen, wie die Geschichte schon oft genug gezeigt hat, verschoben werden. Veränderbarkeit selbst, und zwar aus sich selbst heraus, wird das einzige unveränderliche Merkmal der Menschen. Jeder darüber hinausgehende Anspruch auf unveränderliche Merkmale muss sich daran messen lassen. Und in dieser Hinsicht sind unveränderliche Merkmale, wie geographische oder biologische Herkunft, ein religiöser Glaube oder moralische Überzeugungen, durch ihr Konfliktpotential in der Moderne zu einem sozialen Problem geworden. Sie erlauben den Personen, die an die Gültigkeit solcher Attribute glauben, keine realistische Deutung des menschlichen Verhaltens - weder ihres eigenem noch das von anderen Personen. Sie erlauben nur eine klischeehafte Wahrnehmung und ein klischeehaftes Verhalten. Mit anderen Worten, wenn diese Attribute das Erleben und Handeln der Menschen orientieren, bringen sie Personen sozial zum Verschwinden oder lassen sie gar nicht erst sichtbar werden. Daraus ergibt sich der massive Rechtfertigungsbedarf für das Beharren auf unveränderlichen Merkmalen. Das bedeutet also nicht, dass jeder Rechtfertigungsversuch zum Scheitern verurteilt ist. Was sich verändert hat, sind die Erfolgschancen für Rechtfertigungsversuche, die sich auf die besagten unveränderlichen Merkmale beziehen. 

Um der stärkeren Personalisierung der Menschen durch funktionale Differenzierung, üblicherweise als Individualisierungsprozess bezeichnet, Rechnung zu tragen, wurde versucht Subjektivität, also das psychische Erleben selbst, als neues unverfügbares und unveränderliches Merkmal einzuführen. Dabei handelte es sich aber lediglich um den Versuch, die Einzigartigkeit einer Person als unveränderlich festzuschreiben, ohne jedoch zu klären, wie sich diese Einzigartigkeit bestimmen lässt. Subjektivität lässt sich nicht direkt beobachten, sondern nur vermittelt über das Verhalten einer Person. Die Einzigartigkeit einer Person lässt sich daher nur beobachten, wenn Handeln und mitgeteiltes Erleben einer Person zueinander in Beziehung gesetzt werden. Ohne Bezug zum Verhalten bleibt Einzigartigkeit eine leere Behauptung, eine Illusion. Gleichwohl wird erwartet diese Einzigartigkeit als unantastbar, und damit zugleich unkritisierbar, anzuerkennen. Bekommt eine solche Erwartung einen normativen Charakter, kann dies die Lernfähigkeit der Personen, die an die Geltung dieser Erwartung glauben, beträchtlich einschränken. Wenn die Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit des eigenen, subjektiven Erlebens als Rechtfertigung akzeptiert wird, sich nicht ändern zu müssen, dann wären wiederum alle Menschen in ihrer Lernunfähigkeit gleich und nicht einzigartig. Doch gerade das Beharren auf der eigenen Unveränderlichkeit führt in einer sich beständig verändernden Gesellschaft in die Defensive. Diejenigen, die sich ins soziale Aus gedrängt sehen und weiterhin auf einem unveränderlichen und für das eigene Selbstverständnis existentiell wichtigen Merkmal beharren, können darauf häufig nur noch mit Gewalt reagieren, weil das unveränderliche Merkmal die meisten sozialen Anschlüsse ausschließt.


Gewalt als Kommunikationsmittel

Ich komme nun noch einmal auf den Gedanken zurück, dass die Gewalt von Selbstmordattentätern, wie auch jeglicher anderer Terror, als politische Mitteilung zu verstehen ist, während die Gewalt von Amokläufern nicht als politische Mitteilung verstanden werden kann. Nur im Fall von Selbstmordanschlägen ist ein Staat der unmittelbare Adressat der Mitteilung und gerät unter Zugzwang. Bei Amokläufern bleibt unklar, an wen sich ihre Botschaft überhaupt richtet. Damit bleibt auch unklar, wie sie überhaupt zu verstehen ist bzw. wie man sich in Bezug auf diese Mitteilung verhalten kann. Dies wird nachvollziehbarer, wenn man die Anwendung von physischer Gewalt als Mittel der Kommunikation betrachtet.

Luhmann beschreibt physische Gewalt als eine Vermeidungsalternative (vgl. 2003 [1975], S. 60ff.). Üblicherweise geht man davon aus, dass jeder es vermeiden möchte, dass Opfer von Gewalt zu werden und im schlimmsten Fall durch Gewalt zu sterben. Nur unter dieser Prämisse kann die glaubwürdige Drohung mit Gewalt jemanden dazu bringen, etwas zu tun, was er ohne diese Drohung nicht tun würde. Aus der Perspektive des Adressaten bestehen die Alternativen darin, dass man entweder Opfer von Gewalt wird oder etwas gegen seinen Willen tut und damit zugleich die Anwendung von Gewalt vermeidet. Voraussetzung für eine solche Situation ist, dass sich die Person, die gegen ihren Willen etwas tun soll, sich dem Einfluss der drohenden Person nicht entziehen kann. Die Drohung ist nur dann glaubwürdig, wenn die bedrohte Person annehmen muss, dass sie bei Nichtbefolgung der Anweisung in jedem Fall mit der Anwendung von Gewalt rechnen muss. Aber nur wenn die drohende Person keine Gewalt einsetzen musste, um die bedrohte Person zur Ausführung ihrer Anweisung zu motivieren, nur dann hatte die drohende Person Macht über die bedrohte Person.

Sollte es jedoch widererwartend dazu kommen, dass die drohende Person tatsächlich Gewalt einsetzen muss, dann war die Drohung nicht glaubwürdig und ihre Machtposition wurde aufgehoben (vgl. Luhmann 2003 [1975], S. 9). Somit ist die tatsächliche Anwendung von Gewalt kein Zeichen von Macht, sondern von Machtlosigkeit. Die Macht einer Gewalt- oder Todesdrohung besteht nur solange sie eine Möglichkeit bleibt. Wenn sie tatsächlich zur Anwendung kommt, wird die gewünschte Anweisung von der bedrohten Person nicht ausgeführt – speziell wenn sie tot ist [4]. Die drohende Person konnte sich dann also nicht durchsetzen. Das Ziel der Drohung wurde verfehlt. Versteht man die Anwendung von physischer Gewalt in diesem Sinne teilen sowohl Selbstmordattentäter als auch Amokläufer durch ihre Taten ihre Machtlosigkeit bzw. Ohnmacht mit. Sie sind beide nicht in der Lage andere Personen dazu zu motivieren freiwillig etwas für sie zu tun. Und für eine glaubwürdige Drohung fehlen ihnen die Mittel oder die bedrohten Personen können sich ihrem Aktionsbereich entziehen.

Das Angebot einer Vermeidungsalternative kommt üblicherweise erst dann zum Einsatz, wenn die adressierte Person eine von der mitteilenden Person gewünschte Handlung nicht freiwillig ausführt. Und selbst wenn Vermeidungsalternativen zur Anwendung kommen, muss es sich dabei noch längst nicht um einen Fall handeln, bei dem die Politik intervenieren müsste. Je nach dem, was eine Person in Bezug auf sich selbst gern vermeiden möchte, können von Person zu Person sehr unterschiedliche Handlungen zu Vermeidungsalternativen werden. Auch der Sexentzug in einer partnerschaftlichen Beziehung kann eine Form der Einflussnahme sein. Niemand möchte ernsthaft behaupten, dass sich bei solchen Konflikten die Politik einmischen sollte. D. h. weder der Einsatz von Vermeidungsalternativen noch Unfreiwilligkeit sind Kriterien, welche die politische Relevanz eines Kommunikationsereignisses begründen könnte. Das Problem von Selbstmordattentätern und Amokläufern besteht darin, dass sie nicht in der Lage sind andere Personen ohne Gewalt dazu zu motivieren an ihre Mitteilungen anzuschließen. Ihre Erwartung besteht darin, dass ihr unveränderliches Merkmal attraktiv genug ist, um weitere Anschüsse zu motivieren. Diese Erwartung wird unter modernen Kommunikationsbedingungen ständig enttäuscht, was jedoch nicht zur Aufgabe dieser Erwartung bzw. zum Hinterfragen der eigenen Selbstdarstellung führt. Stattdessen wird die Schuld bei denjenigen gesucht, die nicht an ihre Mitteilungen anschließen. Doch gerade eine solche Erwartungshaltung lässt die Betroffenen in die soziale Irrelevanz abgleiten. Die Freiheitsgrade ihrer Handlungsmöglichkeiten werden aus ihrer Sicht soweit eingeschränkt, dass es gerechtfertigt erscheint von Alternativlosigkeit zu sprechen. Sie selbst sind auch nicht in der Lage diese Entwicklung durch die Suche nach alternativen Betätigungsfeldern abzuwenden. Die einzige Möglichkeit, um dann überhaupt noch auf sich aufmerksam zu machen, besteht im Einsatz von physischer Gewalt, weil es ihnen anderweitig nicht mehr gelingt.

Carl Schmitt belegte die realistische Möglichkeit der physischen Vernichtung eines Feindes mit dem Begriff des Politischen (vgl. 2009 [1932], S. 27f.). Im Kontext des bereits vorgestellten Machtbegriffs umfasst der Begriff sowohl die Drohung mit Gewalt als auch die tatsächliche Anwendung. In dieser Fassung ist der Begriff nicht in der Lage den Unterschied zwischen machtüberlegen, machtunterlegen und machtlos zu markieren. Er konzentriert sich nur auf den Einsatz von Gewalt. Wenn die Bestimmung eines Feindes bereits seine physische Vernichtung impliziert, dann ist die Feindbestimmung bereits ein Hinweis auf gescheiterte Macht. Kriege sind in diesem Verständnis das wechselseitige Eingeständnis der Beteiligten über ihre eigene Machtlosigkeit. Insofern bezeichnet Schmitts Begriff des Politischen zunächst nur ein Problem. Der Begriff ist jedoch nicht dazu geeignet die Operationsweise des Funktionssystems Politik zu beobachten. Die Konzentration auf mögliche und tatsächliche Gewaltanwendung ermöglicht zunächst nur die Beobachtung der machtlosen Außenseite der Politik. Doch in diesem Sinne wird er auch für eine systemtheoretische Machttheorie anschlussfähig, denn die realistische Möglichkeit der physischen Vernichtung beschreibt das Bezugsproblem der Politik. Die gesellschaftliche Funktion der Politik besteht im Kern darin, dass diese Möglichkeit nicht Wirklichkeit wird und auch niemand außer dem Staat legitim mit Gewalt drohen darf. Damit soll nicht bestritten werden, dass noch viele andere Erwartungen an einen Staat gerichtet werden, bei denen es darum geht gesellschaftliche Risiken zu minimieren oder zu kompensieren. Sofern sich Politiker bemühen auch diese Erwartungen zu erfüllen, war damit zumeist ein Wechsel der Methode von negativen Sanktionen in Form von Strafen zu positiven Sanktionen in Form von Geldleistungen verbunden. Wie weit derartige politische Konkurrenzangebote zur wirtschaftlichen Lebenunterhaltssicherung tragen, ist aktuell noch ungewiss. Wenn hier im Folgenden vom Politischen die Rede ist, dann ist damit nur das Problem der potentiellen und tatsächlichen Gewaltanwendung gemeint und nicht mehr. Die Zuschreibung von Freund und Feind ist dem gegenüber sekundär, aber sicherlich nicht irrelevant, wenn Feindbestimmungen bereits auf das Scheitern von Macht hinweist.

Als Realisierung der physischen Vernichtung von Menschen zeigt sich das Politische sowohl bei Terroranschlägen als auch bei Amokläufen. Zugleich wird ein sehr direkter Hinweis geben, wer für den Feind gehalten wurde. Während man bei Amokläufen erst nachträglich feststellen kann, wen der Täter für seine Feinde hielt, machen Terroristen bereits vorher keinen Hehl daraus, wer ihr Feind ist. Ob Amokläufer vor der Tat wirklich eine bewusste Feindbestimmung vollzogen haben, spielt politisch keine Rolle. Als Antrieb wäre auch reine Zerstörungswut denkbar, die sich an den zufällig gerade Anwesenden auslässt. Doch wie bereits ausgeführt, wird das Funktionssystem Politik mit diesen Ereignissen vor ein unlösbares Problem gestellt, denn das einzige Mittel, mit dem die Politik Einfluss nehmen kann – nämlich die Drohung mit Gewalt –, versagt in diesen Fällen. Die Vermeidungsalternative der Politik funktioniert bei den Tätern nicht. Deswegen ist die Politik machtlos gegenüber diesen Tätern.

Beide Tätergruppen sind im Leben als Personen umfassend gescheitert. Ihnen ist es nicht gelungen, die Herausforderungen oder Prüfungen, die das Leben bereithält, zu meistern. Sie sind am Ende isoliert und der eigene Tod erscheint als eine Befreiung aus dieser Isolation. Außer ihrem Leben haben sie nichts mehr zu verlieren. Im strengen Sinne trifft dies allerdings nur auf Amokläufer zu, die zumeist Einzeltäter sind. Der finale Amoklauf lässt sich dann als ein Versuch verstehen, sich Genugtuung durch die Anwendung von Gewalt zu verschaffen. Die Opfer dieser Gewalt können persönliche Bekannte sein, müssen es aber nicht. Es können genauso gut Personen sein, die für eine bestimmte Institution stehen, auf die sich der Hass des Täters richtet. Die Auswahl der Opfer erfolgte zufällig. Darin besteht eine Gemeinsamkeit mit Terrorakten. Die Auswahl der Opfer zeigt aber zugleich, dass die Generalisierung des Hasses nicht über den persönlichen Einflussbereich hinausging. Die Ablehnung der Umwelt hat sich unter Umständen schon von persönlichen Bekannten abgelöst und auf eine Institution übertragen. Trotzdem ging sie nicht soweit, dass die Tat als Ausdruck der Ablehnung der Gesellschaft als Ganze verstanden werden kann. Sie sehen für sich einfach nur keinen Platz in der Welt, wie sie sie sehen.

Eine kollektiv bindende Entscheidung, die vielleicht die Situation anderer Betroffener verbessern könnte, kann und wird durch die Tat nicht erzwungen. Dadurch fehlt der Tat das Moment, das eine Relevanz für das Funktionssystem Politik begründen könnte, denn für einen modernen Staat sind Amokläufer zwar ein Problem, aber keine Feinde im strengen Sinne. Sofern man überhaupt von Feinden sprechen möchte, werden Amokläufer nur durch ihr gewaltsames Verhalten zu Feinden der modernen Gesellschaft. Zu einem politischen Problem werden Amokläufer nur durch das Mittel ihrer Konfliktbewältigung. Die fehlende politische Botschaft der Tat lässt erkennen, dass der performative Aspekt – systemtheoretisch gesprochen die Form der Mitteilung – im Vordergrund steht. An die mitgeteilten Informationen kann man, sofern der Täter nicht überlebt, nicht mehr direkt anschließen. Genauso wie bei einer rhetorischen Frage wird vom Adressaten keine Antwort erwartet. Insofern ist nicht zu erkennen, dass durch die Tat ein Staat zu einer kollektiv bindenden Entscheidung motiviert wird, um diese Gewaltanwendung zukünftig zu verhindern. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass es dem Täter lediglich darum geht seinen Schmerz über die aussichtlose Situation, in der er sich befindet, der Welt mitzuteilen – mehr noch, den Schmerz spüren zu lassen. Es geht nicht darum Feinde zu vernichten, sondern um die Mitteilung von Gefühlen. Die Tat kann aufgrund der sehr intimen Informationen, die durch sie mitgeteilt werden, nur als persönliche Botschaft verstanden werden. Im Hinblick auf das Leid der Angehörigen von Opfern einer solchen Tat muss festgestellt werden, dass dies in gewisser Weise auch funktioniert. Unter diesem Gesichtspunkt handelt es sich bei Amokläufen um eine sogenannte Ventilsitte (vgl. Coser 2009 [1956], S. 47ff.). Auch wenn sie weder sozial institutionalisiert wurden noch als solche akzeptiert ist, sind sie doch zu einer traurigen Regelmäßigkeit geworden.

Bei Selbstmordanschlägen handelt es sich dagegen nicht um persönliche Botschaften der Täter. Auch wenn die Biographien vieler Islamisten, die in westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind, Ähnlichkeiten mit denen von Amokläufern aufweisen, besteht doch ein wichtiger Unterschied – sie berufen sich auf eine religiös-politische Agenda und können daher nicht als Einzeltäter betrachtet werden, sondern als Vertreter einer Protestbewegung. Das gefährliche an Protestbewegungen, wie dem politischen Islamismus und anderen, besteht darin, dass sie jedem offensteht, der in irgendeiner Form den modernen, üblicherweise als »westlich« bezeichneten Lebensstil ablehnen. Sie liefern den ideologischen Überbau. Dieser ist zumeist so voraussetzungslos, dass sich jeder darauf berufen kann, der seiner radikalen Ablehnung der modernen Gesellschaft eine Rechtfertigung zu geben versucht. Die Ideologie liefert hier nochmals einen Generalisierungsschub der Ablehnung über die Grenzen des persönlichen Einflussbereichs hinaus. Das unveränderliche Merkmal als Deutungskontext macht diese Generalisierung besonders leicht, weil sie auf diese Weise viel zu einfache Deutungen komplexer Zusammenhänge zulässt. Zuschreibungen wie »Ungläubiger« verführen dazu vom Verhalten der so attributierten Personen abzusehen und damit von den relevanten Informationen, die dieser Attribution widersprechen können. Während der Amokläufer am Ende seiner Entwicklung mehr oder weniger isoliert ist und die Konflikte verinnerlicht wurden, kanalisiert die Ideologie den psychischen Konflikt nach außen und eröffnet sogar neue Inklusionsmöglichkeiten. Die Attraktivität politischer Ideologien liegt darin, dass sie die Frustration und die Ablehnung auf etwas kanalisieren, dadurch in der Perspektivlosigkeit neuen Sinn stiften und die Quelle für neue Motivation liefern.

Die relative Vereinzelung der Täter lässt jedoch keine größere Organisation zu. Festgeschrieben sind nur die weltanschaulichen Prämissen und die daraus abgeleiteten Ziele. Dadurch wird den Sympathisanten bei der konkreten Umsetzung sehr große Freiheit gelassen. Dies kommt der sozialen Isolation der potentiellen Täter entgegen, die sich nun bestärkt sehen ihre Aggressionen nach außen zu tragen – egal ob allein oder gemeinsam mit anderen. Die Organisationsprinzipien der Terrorzellen sind Dezentralität, Lokalität und Unbeobachtbarkeit, was der persönlichen Situation sehr entgegen kommt. Durch diese Prinzipien gewinnt die Bewegung eine unkontrollierbare Eigendynamik und verselbständigt sich. Das Gefährliche speziell des Islamismus besteht darin, dass sie es den Verlierern der westlichen Gesellschaft ermöglicht ihren privat gepflegten Ressentiments eine politische Deutung zu geben, um ihnen eine universelle Qualität und objektive Berechtigung zu verleihen, die den Todeswunsch aber letztlich nicht aufhebt, sondern nur rekontexualisiert. Das Gefühl, dass man nicht allein ist, gibt dabei einen gravierenden Motivationsschub. Der private Groll kann nun in den Dienst einer vermeintlich höheren Sache gestellt werden. Der Islamismus spricht all diejenigen an, die selbst gerne einmal Gewalt gegen unliebsame Personen einsetzen würden, ihre kulturellen Regeln ihnen dies aber verbieten. Das als unveränderlich angenommene Merkmal liefert dabei die Begründung der eigenen Überlegenheit und damit zugleich die Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt, um sich ihre vermeintliche Überlegenheit zu bestätigen.

Dadurch kann die terroristische Gewalt nicht als rein performativer Akt betrachtet werden. Durch das Töten im Namen einer Ideologie wird eine politische Botschaft kommuniziert. Obgleich es sich auch um einen deutlichen Ausdruck der eigenen Machtlosigkeit handelt, hat man es nun mit der Mitteilung einer losen Gemeinschaft zu tun. Aus der in den Selbstmordanschlägen ostentativ zur Schau gestellten Autoaggression entspringt eine andere Form der Macht – sofern der Begriff Macht dafür überhaupt angemessen ist. Unter dem Stichwort »Psychoterror« wird diese Macht im nachfolgenden Abschnitt erneut thematisiert. Die Selbstmordattentäter demonstrieren mit ihrem autoaggressiven Verhalten, dass die Gemeinschaft, in deren Namen sie töten, von der Übermacht ihres Gegners nicht einschüchtern lässt. Durch diese vorauseilende Bereitschaft, Gewalt gegen sich selbst anzuwenden, wird dem Gegner jegliche Möglichkeit für eine glaubhafte Drohung genommen. Die Autoaggression kommt einer Entwaffnung des politischen Gegners gleich. Selbstmordattentate sollen damit die Überlegenheit der Gemeinschaft demonstrieren. Ist diese Stufe der Eskalation jedoch erreicht, wird die terroristische Gewalt zur reinen Selbstbefriedigung von Allmachtsfantasien der Täter. Man genießt die Vorstellung, dass man durch öffentlichkeitswirksam inszenierte Brutalität Angst und Schrecken verbreitet und jeglichen Widerstand demotiviert. Dadurch wird die kämpferische Pose jedoch zu einer leeren Drohung. Die Drohgebärde ist Mittel und Zweck zugleich. Dass die Gewaltanwendung zur reinen Selbstbefriedigung degeneriert, zeigt sich auch daran, dass es in den islamistischen Bewegungen keine ernsthaften Pläne für die Zeit nach dem Sieg über die Ungläubigen gibt [5].

Auch Amokläufer berauschen sich wahrscheinlich an dieser Vorstellung, dass sie durch ihren letzten gewaltsamen Auftritt im Gedächtnis bleiben werden. Doch während sie noch in einem sozialen Kontext handeln, der Gewalt verachtet, und sie nur daraus die Hoffnung auf einen zweifelhaften Ruf ziehen, halten Terroristen Gewaltanwendung für akzeptabel und hoffen auf einen Märtyrertod. Vereinfacht ausgedrückt, der Amokläufer stirbt in dem Bewusstsein als Anti-Held, der sicherlich auch seine Bewunderer finden wird, in die Geschichte einzugehen, der Selbstmordattentäter dagegen als Held seiner Bewegung. Letztlich begehen beide einen egoistischen Selbstmord im Sinne von Emile Durkheim (vgl. 1983 [1897], S. 232) [6]. Doch erst die ideologische Instrumentalisierung verleiht den Selbstmordanschlägen ihre politische und damit auch scheinbar altruistische Dimension. Auch bei terroristischer Gewalt fällt der rein performative Aspekt sofort ins Auge. Gleichwohl sind die politischen Implikationen andere als bei Amokläufen.


Das Dilemma der Moderne

Politische Macht muss bestimmten Selbstbefriedigungsverboten unterliegen, damit sie nicht zur grenzenlosen Befriedigung persönlicher Geltungsbedürfnisse eingesetzt wird (vgl. Luhmann 2003 [1975], S. 63). Mit anderen Worten, Machtanwendung als Drohung mit Gewalt muss eingeschränkt werden. Durch die Regelung der legitimen Gewaltanwendung wird der Einsatz von politischer Macht erwartbar und kalkulierbar. Diese Konditionalisierung politischer Macht gelingt durch das gesellschaftliche Funktionssystem Recht. Das Recht unterbindet eine willkürliche Anwendung von Macht und Gewalt. Durch willkürliche Gewaltanwendung kommt es dagegen zu einer Inflation der Macht. Genauso wie eine unglaubwürdige Drohung Macht entwertet, so entwertet auch ein willkürlicher und exzessiver Einsatz von Gewalt die Macht des Täters. Die Willkürlichkeit der Anwendung ist ein Hinweis darauf, dass es nicht darum geht den Adressaten zu einer unfreiwilligen Handlung zu motivieren. Die Gewaltanwendung bleibt keine Drohung und das Opfer wird dadurch zu nichts motiviert. Willkürliche und demonstrative Gewaltanwendung verlangt von den Adressaten – also den Zeugen der Gräueltaten – reine Unterwerfung [7]. Das Ziel ist es, ihren Willen zu brechen. Und selbst das kann nicht verlässlich vor der Gewalt des Aggressors schützen. Wenn jedoch Unterwerfung bzw. Kapitulation für die Bedrohten keine Option ist, gestaltet sich die Entscheidung, wie man auf diese Gewalt angemessen reagieren kann, äußerst schwierig. Eigentlich macht es keinen Unterschied, wie moderne Staaten darauf antworten. Es wird von den Terrorgruppen immer gegen sie ausgelegt. Wird versucht zu beschwichtigen oder zu verhandeln, wird dies als Schwäche ausgelegt und man muss nur so weiter machen bis sich der Gegner dem Terror beugt. Terroristen können auf Verhandlungsangebote schon deswegen nicht eingehen, weil sich bei den Verhandlungen vermutlich nochmals die Machtlosigkeit der Terroristen zeigen würde. Sie haben nichts, worüber sie verhandeln könnten, außer mit dem wahllosen Töten aufzuhören. Auf das einzige Druckmittel, was ihnen zu Verfügung steht, werden sie nicht einfach verzichten. Und so bleibt den Terroristen nichts anderes übrig als immer so weiterzumachen. Gefährlich wird es, wenn die Bedrohten von der impliziten oder sogar expliziten Annahme ausgehen, dass die Gewalt der Terroristen legitim und gerechtfertigt wäre. Wehrt man sich andererseits gegen terroristische Angriffe – und der Einsatz von Gewalt wird dabei nicht ausbleiben –, wird dies erst Recht als Legitimation verstanden mit dem Terror weiter zu machen.

Hier stößt man, wenn man so sagen darf, auf den Terror 2.Ordnung, nämlich den Psychoterror. Wenn es egal ist, wie der Westen auf den Terror reagiert, dann versuchen die Terroristen den Westen in etwas zu treiben, was aus Tierversuchen als Experimentalneurose bekannt ist. Bei einer pawlowschen Konditionierung wird ein Tier zuerst darauf trainiert zwischen einem Kreis und einer Ellipse zu unterscheiden. Sobald diese Unterscheidung gelernt wurde, werden mit jedem Durchgang die Ellipse immer runder und der Kreis immer flacher gemacht. Schließlich kommt ein Durchgang bei dem der Kreis und die Ellipse nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Spätestens zu diesem Zeitpunkt zeigt das Tier ernsthafte Verhaltensstörungen (vgl. Bateson 1981 [1964], S. 383). Das Verhalten der Terroristen beruht auf demselben Prinzip. Ob dies absichtlich geschieht, darüber soll hier nicht spekuliert werden. Sobald ein Kommunikationspartner immer auf dieselbe Weise reagiert, egal was man tut, dann kann genau derselbe Effekt entstehen. Ohne Unterschiede in den Reaktionen des Kommunikationspartners, egal was man tut, erscheint das eigene Handeln folgenlos und damit sinnlos. Die wiederholte Erfahrung eines solchen Ereignisses frustriert die Betroffenen mit der Zeit. Die Frustration und Verzweiflung wird häufig zu einem aggressiven Verhalten führen. Die Terroristen hatten wahrscheinlich zu irgendeinem Zeitpunkt dasselbe Problem. Ihr Handeln machte für sie hinsichtlich der Aufmerksamkeit und Anerkennung durch andere Personen keinen Unterschied mehr, egal was sie taten. In dieser Situation sahen sie sich vor die Alternativen Unterwerfung unter sinnlose Regeln oder Widerstand gegen sie gestellt. Die Terroristen versuchen durch ihr Verhalten möglicherweise bei den Zeugen des Terrors genau dasselbe verzweifelte Gefühl zu erzeugen, das sie schließlich dazu bewogen hat gewalttätigen Widerstand zu leisten. Dadurch reproduzieren sie aber nur diese Situation und stellen andere Menschen vor die Wahl sich entweder ihrer willkürlichen Verfügungsgewalt auszuliefern oder Widerstand zu leisten. Moderne Staaten stehen ebenso vor diesem fatalen Dilemma.

Wenn jedoch Unterwerfung für beide Seiten keine Option ist, weil man sich damit selbst verraten und aufgeben würde, ist die Eskalation der Gewalt vorprogrammiert. Dies ist vermutlich immer der Fall, sobald eine Seite bereit ist Gewalt gegen sich selbst einzusetzen. Damit erheben sich diese Personen über jede soziale Ordnung und zeigen, dass sie nicht bereit sind sich irgendwelchen Regeln zu unterwerfen – nicht mal ihren eigenen. Moderne Staaten stehen nun vor dem Problem, wie man mit Personen umgeht, die sich auf diese Weise über jegliche politische und rechtliche Ordnung stellen, um das Recht des Stärkeren – also die willkürliche Anwendung von Gewalt – durchzusetzen. Man kann von den Methoden der USA im Kampf gegen den Terror halten, was man will. Abu Ghuraib, Guantanamo oder der Drohnenkrieg lassen sich nur verstehen, wenn man sich darüber klar wird, dass die Seite die Regeln diktiert, die bereit ist bis zum Äußersten zu gehen – d. h. sich selbst zu opfern – und das sind in diesem Fall die islamistischen Terroristen. Spätestens mit dem Anschlag vom 11. September 2001 haben sie den Anschein einer verrechtlichten Weltordnung zerstört und gezeigt, dass auf der Ebene der Weltpolitik Anarchie herrscht und alles erlaubt ist. Zu Zeiten des Kalten Krieges ließ sich diese Tatsache durch die Arbeit der Geheimdienste relativ gut aus der Öffentlichkeit heraus halten. Der weltweit operierende islamistische Terror hat jedoch kein Interesse daran, dass seine Aktionen im Verborgenen bleiben. Er setzt auf die Öffentlichkeitswirksamkeit der terroristischen Gewalt, um weitere Anhänger zu gewinnen. Deswegen verstehen es islamischtische Terrorgruppen so gut die Verbreitungskanäle der Massenmedien für sich zu nutzen. In den Massenmedien, mit ihrer Vorliebe für Devianz [8], finden die Terroristen willige Abnehmer, die ihre Botschaft verbreiten, auch wenn sie die Botschaft nicht teilen. Gerade durch ihre eigenen Selektionskriterien werden die Massenmedien zu heimlichen Verbündeten der Terroristen.

Zugleich zeigt dies nochmals, wie sehr rohe, willkürliche Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen von den Terroristen akzeptiert ist, denn sie sind bereit sich öffentlich dazu zu bekennen. Jede Gesellschaft, die ihre Ordnung auf die Vermeidung von Gewalt gründet, muss daher auch Gewalt anwenden, wenn diese Ordnung durch gewalttätiges Verhalten bedroht wird. Ansonsten beugt man sich dem Recht des Stärkeren und der Ausnahmezustand wird zum Normalfall. Die Terroristen versuchen mit ihren Aktionen den Ausnahmezustand herbeizuführen. Das durch die terroristische Gewalt produzierte soziale Chaos wird zur Bedingung der eigenen Macht. Das Recht des Stärkeren muss deswegen im hier eröffneten theoretischen Kontext als das Recht des Schwächeren interpretiert werden, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen – mehr noch als das Recht seine eigene Machtlosigkeit durch die Anwendung physischer Gewalt zu kompensieren.

Im Hinblick auf die möglichen Reaktionen auf terroristische Gewalt, stellt sich die Frage nach «richtig oder falsch« oder »legitim oder illegitim« dann nicht mehr. Es stellt sich eher die Frage, ob man, sobald man mit einem politischen Gegner konfrontiert ist, der zum bedingungslosen Einsatz von Gewalt – auch gegen sich selbst – bereit ist, nicht zwangsläufig zum Verrat an allen Werten gezwungen wird, die einem hoch und heilig sind? Gibt es im Angesicht einer solchen Bedrohung noch eine Möglichkeit sein eigenes Selbstverständnis zu wahren oder gehen nicht am Ende alle beschädigt aus dieser Auseinandersetzung hervor? Das sind keine angenehmen Fragen und bis heute scheut man sich derartige Fragen öffentlich zu diskutieren. Der inzwischen schon über eine Dekade dauernde Krieg gegen den Terror lässt erhebliche Zweifel aufkommen, dass man unbeschädigt aus einer solchen Auseinandersetzung hervorgehen kann. Wenn ein Beteiligter zur bedingungslosen Anwendung von Gewalt bereit ist und sich auch von der Möglichkeit, selbst Opfer von Gewalt zu werden, nicht abschrecken lässt, dann werden bei den Bedrohten auch nur die dunkelsten Seiten ihres Charakters angesprochen. Die Ideologie der Terroristen bringt eine selektive Wahrnehmung mit sich, die ihnen dabei hilft die aufgeworfenen Fragen und Probleme auszublenden. Der Zweck heiligt in ihren Augen jedes Mittel. Doch solche unangenehmen Fragen müssen gestellt und diskutiert werden. Schon allein um dem weitverbreiteten pazifistischem Missverständnis entgegen zu treten, in der modernen Gesellschaft könnte man auf die Anwendung von Gewalt vollständig verzichten. Denn gerade diese unpolitische und unrealistische Erwartungshaltung, die sogar von vielen Politikern bedient wird, trägt zu einer gravierenden Delegitimierung des Funktionssystems Politik bei – und damit zu dessen Entmachtung. Damit wäre wiederum den Gegnern der Moderne am meisten geholfen. Pazifismus ist letztlich nur das komplementäre Gegenstück zum Recht des Stärkeren. Er ist die Illusion der Schwachen, dass schon allein ihre Schwäche entwaffnend wirkt und bei den Tätern Schuldgefühle auslöst. Es zeugt von einem großen Maß an Naivität zu glauben, dass sich skrupellose Mörder davon beeindrucken lassen. Das Konzept des Pazifismus ist lediglich der vorauseilende Gewaltverzicht, um nicht selbst das Opfer von Gewalt zu werden. Es ist der Versuch einen Aggressor zu beschwichtigen. Aber mit dieser Reaktion hat man sich bereits seiner Macht unterworfen. Die naive, bedingungslose Negation von Gewalt bestätigt letztlich nur die Wirksamkeit der Gewaltandrohung. Im Anschluss an Schmitt kann man sogar sagen, Pazifisten überlassen es lieber den Personen, die bereit sind Gewalt anzuwenden, die Unterscheidung von Freund und Feind für sie mit zu treffen (vgl. 2009 [1932], S. 47). Sie lehnen Gewalt eigentlich nicht ab, sie wollen nur nicht selbst die Entscheidung über den Einsatz von Gewalt treffen, weil es ihrem moralisch überhöhten Selbstbild nicht entspricht, und überlassen sie denjenigen, die bereit sind sie zu treffen.

Sofern jedoch Unterwerfung für beide Beteiligten keine Option ist, wird Gewalt immer Gegengewalt erzeugen. Terroristische Gewalt wirkt daher gesellschaftlich und psychisch regressiv. Denn solange nicht beiden Seiten daran gelegen ist, Gewalt zu vermeiden, lässt sich die Spirale der Gewalt nicht stoppen. Das innere psychische Chaos der Täter erzeugt soziales Chaos, das wiederum das psychische Chaos verstärkt, das wiederum das soziale Chaos verstärkt usw.. Auch daraus lässt sich ein Lebensstil entwickeln, der jedoch für die Betroffenen häufig selbstzerstörerisch ist. Ideologisch verbrämt werden persönliche Konflikte sozial nicht isoliert, sondern breiten sich unkontrolliert in der Gesellschaft aus. Der islamistische Terror versucht diejenigen, die sich als Verlierer des westlichen Lebensstils sehen, zu instrumentalisieren, um der ganzen Welt israelische Zustände zu bringen. Es ist der Versuch eine radikal egozentrische, selbstbezogene Sichtweise zu kultivieren und weltweit zu verbreiten. Sie ist radikal, weil sich durch eine autoaggressive Wendung die eigene Ohnmacht zu einem berauschenden Gefühl der Allmacht verkehrt [9]. Die Betroffenen gefallen sich darin durch die eigene Selbstverleugnung Angst und Schrecken zu verbreiten. Man mag nun die westliche Lösung der Entpolitisierung, Verrechtlichung und Isolierung von zwischenmenschlichen und persönlichen Konflikten für zynisch halten, doch immerhin besteht auf diesem Wege noch die Chance, dass der Konflikt konstruktiv gewendet werden kann, denn er bietet den Betroffenen zumindest die Möglichkeit zum Lernen. Der islamistische Terror macht deutlich, was die Alternative wäre, wenn es erlaubt ist, dass Frust und Aggression ungezügelt Ausdruck verschafft werden kann, um persönliche Geltungsbedürfnisse zu befriedigen. Um zu sehen, was dabei herauskommt, muss man sich die sozialen Ordnungen anschauen, die in den Einflussgebieten der Taliban oder des Islamischen Staates entstanden sind.


Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es?

Nur dadurch dass andere Menschen zu Schaden kommen, können Exklusionsdynamiken von Einzelpersonen zu einem politischen Problem werden. Da jedoch eine Früherkennung und Prävention fast unmöglich ist, kann die Politik keine effektiven Lösungen anbieten. Darüber hinaus sind alle Mittel, die möglich sind, eine solche Tat zu verhindern bereits im Einsatz. Als erstes ist hier Erziehung zu nennen, durch die vermittelt wird, wie man mit akzeptablen, also gewaltlosen Mitteln Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Darüber hinaus kann man auch durch die eigenen Erfahrungen lernen, wie man sein Verhalten attraktiver macht. Ab einem bestimmten Alter, wird dies ohnehin von jedem erwartet. Es steht heute eine unüberschaubare Anzahl an Möglichkeiten zur Verfügung, die zeigen, dass Alternativlosigkeit lediglich ein subjektiver Eindruck ist. Wer unter diesen Möglichkeiten nichts für sich findet, an dem man sich mit Freude beteiligen kann, dem ist möglicherweise wirklich nicht zu helfen.

Man ist versucht dem Erziehungssystem die Aufgabe zuzuschreiben, dass es die Menschen darauf vorbereitet ihr Leben selbständig zu führen. Dass dies allein nicht reicht, hatte am 24. März 2015 der Amokpilot Andreas Lubitz gezeigt. Er war durchaus in der Lage sein Leben selbständig zu führen. Trotzdem sah er sich offenbar zu mehr berufen, ohne dass er dieses Mehr realisieren konnte. Dass er sich am Ende auf diese Weise umbringen musste, zeigt dass er sehr wahrscheinlich auch nicht dazu in der Lage gewesen wäre seine Ambitionen zu verwirklichen. Für diese Enttäuschung über sich selbst mussten 149 weitere Menschen mit dem Leben bezahlen. Insofern muss Erziehung mehr leisten als durch das schlichte Eintrichtern von Wissen die Menschen auf das Leben vorzubereiten. Wissen muss jeden Menschen in der Lage versetzen zu Handeln. Das gilt nicht nur für die Ausführung vorgegebener Aufgaben, sondern auch von Problemen, deren direkte Lösung nicht beigebracht wurde. Dazu gehört die Fähigkeit zur Abstraktion bzw. Generalisierung, um den Bezug zu neuen, unbekannten Problemen herstellen zu können. Doch gerade die allgemeinere Relevanz von bestimmten Lehrinhalten wird häufig nicht aufgezeigt oder fehlt sogar völlig. Deswegen sind vermutlich viele Jugendliche heute eher konformistisch eingestellt. Sie sind nicht mehr in der Lage im Unvertrauten das Vertraute zu erkennen und klammern sich an das, was sie kennen und Sicherheit verspricht. Das einfache Lernen von bestimmtem Wissen ist als ausreichende Vorbereitung auf das Leben zu wenig. Reine Wissensvermittlung greift viel zu kurz. Vielmehr muss das Lernen selbst gelernt werden, also wie man sich selbst bestimmtes Wissen aneignet und aufbereitet, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Erst dadurch erlangen Menschen eine Autonomie, die sie unabhängig von vorgegebenen Erwartungen handeln lässt. Zum Lernen des Lernens gehört unter anderem die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion – aber nicht in einem destruktiven, anklagenden Sinne, sondern in einem konstruktiven, bestärkenden Sinne, die Fehler nicht als persönliches Versagen sondern als Gelegenheit zum Lernen betrachtet. Fehler informieren zunächst immer über die eigenen unangemessenen Erwartungen. Es gilt zu lernen diese negativen Erfahrungen auszuhalten. Nur dann kann man ihren beschränkenden Einfluss auf das eigene Denken überwinden.

Unterlassung und Enthaltsamkeit sind nur Selbstverwirklichungsmöglichkeiten durch Nichts-Tun. Es handelt sich dabei um eine Selbst-Verdrängung indem die eigenen Wünsche und Bedürfnisse ignoriert werden. Selbstreflexion führt dann zu einem negativen, schuldbeladenen und damit destruktiven Selbstverständnis, da man den sozial geteilten Unterlassungserwartungen nicht genügen kann. Durch die Unmöglichkeit sich durch Enthaltsamkeit selbst zu verwirklichen, werden die unerfüllten und verdrängten Wünsche zu ungerichteter Aggression sublimiert, die irgendwann nach Ausdruck verlangen. Die Aggression richtet sich dann auf alles, was der eigenen Selbstverwirklichung im Wege steht – und das ist, wird ein solches Selbstverständnis lange genug durchgehalten, im Prinzip die ganze Welt. Es dürfte kein Zufall sein, dass die lustfeindlichsten Kulturen, wie die radikalen Spielarten des Islam, zugleich die blutigsten Schreckensherrschaften errichtet haben. Im Anschluss an Sigmund Freud könnte man sagen, der einzige Lustgewinn wird aus der Unlustvermeidung gezogen (vgl. 2007 [1930], S. 42ff.). Da in einer solchen Kultur aber schon die kleinste Abweichung von den gemeinschaftlichen Erwartungen die anderen Mitglieder in ihrem Selbstverständnis verletzt und somit Unlust erzeugt, kann das Töten sehr schnell zur einzigen Selbstvergewisserung werden, die lustfeindlichen Kulturen bleibt. Da nur Menschen Lust, Freude und Glück empfinden können, handelt es sich bei  dieser Lustfeindlichkeit daher nicht nur um die Ablehnung eines bestimmten Gesellschaftsmodells, sondern darüber hinaus um Menschenfeindlichkeit. Diese wird in Kulturen gefördert, die die menschliche Existenz nur negativ durch die Versagung von Genuss, Lust und Freude realisiert sehen. Unter solchen Bedingungen kann jeder Fehler tödlich sein. Diese Voraussetzungen begünstigen dann die Entwicklung von Schuldgefühlen und Selbsthass, weil man den Ansprüchen der Gemeinschaft nicht gerecht wird. Weder sozial noch psychisch ist dabei eine Entwicklung durch Lernen vorgesehen. Diese wird mit roher Gewalt unterdrückt. 

Die Verdrängung von Wünschen und Bedürfnissen kann daher in der modernen Gesellschaft, die Anerkennung nur für das, was man kann, und nicht für das, was man nicht kann, vergibt, keine Lösung mehr sein. Gerade das macht aus Menschen tickende Zeitbomben. Und doch besteht auch in der modernen Gesellschaft die Gefahr, dass ein unbefriedigtes Geltungsbedürfnis einen Aggressionsstau auslöst, der sich irgendwann unkontrolliert entlädt. Die moderne Variante der Konfliktbearbeitung kann diese Möglichkeit nicht völlig ausschließen. Sie setzt zwar auf die Transparenz der Verfahrensregeln. Zugleich wird der persönliche Konflikt jedoch auf diesem Weg isoliert und in die soziale Irrelevanz, getrieben, sofern der Unterlegene des Verfahrens seine Niederlage nicht einsehen will. Dann wuchert der Konflikt lediglich in der Psyche vor sich hin und kommt als Amoklauf plötzlich und unerwartet zum Ausdruck. Oder er wuchert sozial in »Exklusionsräumen« (Luhmann 1997, S. 632) wie Ghettos oder Gefängnissen weiter vor sich hin und verschafft sich schließlich nicht ganz so unerwartet im ideologisch gerechtfertigten Terror seinen Ausdruck. Letztlich bleibt heute trotzdem nur die Möglichkeit Konfliktlösungsverfahren zu institutionalisieren, bei denen durch die Nachvollziehbarkeit der Regeln eine realistische Chance auf einen Erfolg besteht, aber auch eine Niederlage erträglich ist und nicht als Gesichtsverlust aufgefasst wird, wenn man weiß warum man dieses Mal unterlegen war.

Im konstruktiven Sinne wird Selbstverwirklichung heute nur durch das Erfüllen der eigenen Wünsche und Bedürfnisse durch persönliche Kommunikationsbeteiligung realisiert. Dafür sollten Personen in der Lage sein ihre Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten sowie deren Entwicklungspotentiale genauso zu erkennen, wie die Grenzen ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten. Dies gelingt allerdings nicht durch die Zuschreibung von unveränderlichen Merkmalen – und sei es nur die Unfähigkeit zum Lernen selbst, die als unveränderlich betrachtet wird. Nur wer seine aktuellen Grenzen kennt, lernt mit Enttäuschungen und Misserfolg umzugehen, ohne sich durch solche Ereignisse vollständig entmutigen zu lassen. Fehler zu machen darf daher kein gesellschaftliches Tabu sein, nur damit jeder sein idealisiertes Selbstbild aufrecht erhalten kann. Menschen sind nun einmal fehlbar. Aber nur dadurch sind sie auch lernfähig. Wenn Fehler zugelassen sind, sind psychische und soziale Konflikte damit vorprogrammiert. Konflikte können daher ebenfalls nicht unterdrückt werden, sondern es müssen Verfahren gefunden werden, diese Konflikte friedlich zu lösen, anstatt sie gewaltsam eskalieren zu lassen. Das muss aber nicht heißen, dass ein Konflikt in jedem Fall zur Zufriedenheit aller Beteiligten gelöst wird. Die Form der Konfliktaustragung ist also entscheidend. Konflikten aus dem Weg zu gehen und sich Ersatzbefriedigungen zu suchen ist keine effektive Lösung, da auf diese Weise ein Konflikt nicht gelöst wird und damit die Quelle negativer Emotionen nicht versiegt. Vielmehr werden die negativen Emotionen durch Ersatzbefriedigungen lediglich abgelenkt und neu ausgerichtet. Sie werden gleichsam dissoziiert. Auf diese Weise werden Ressentiments herangezüchtet.

Eine wichtige Voraussetzung für eine sozial verträgliche Konfliktlösung ist die Fähigkeit zur Distanzierung von negativen Emotionen. Diese entstehen bei der Enttäuschung gehegter Erwartungen und können von den Betroffenen unter Umständen sogar als Verletzung des eigenen Image – häufig als narzisstische Kränkung bezeichnet – verstanden werden. Im Rahmen von Konflikten sind solche Verletzungen sehr wahrscheinlich und es gilt zu lernen mit solchen Verletzungen umzugehen. Dies gelingt durch das Aufzeigen anderer Möglichkeiten bzw. funktionaler Äquivalente, die ohne eine Verletzung des Kommunikationspartners auskommen und trotzdem die eigenen Erwartungen erfüllen. Auch dabei geht es letztlich um das Angebot einer Ersatzbefriedigung. In diesem Fall werden die negativen Emotionen aber nicht dissoziiert, sondern auf die Quelle gelenkt – die enttäuschten Erwartungen. Die soziale Klärung der enttäuschten Erwartungen kann schließlich zur Auflösung der negativen Emotionen führen. An ihre Stelle tritt das positive Gefühl ein Problem erfolgreich gelöst zu haben, ohne das andere Personen zu Schaden gekommen sind. Insofern braucht es keine Verliererkultur, wie des Öfteren in Feuilleton-Artikeln gefordert wird. Denn dabei geht es zumeist nur darum sich mit den Enttäuschungen abzufinden und die damit verbundenen negativen Gefühle als unveränderlich zu akzeptieren. Es reicht einfach mehr Sportsgeist und einen Sinn für funktionale Äquivalente zu entwickeln. Genauso wie man im Fußball wegen einem verlorenen Spiel noch nicht die komplette Saison aufgeben muss, bedeutet auch im Leben ein Misserfolg noch nicht das Ende des Lebens. Enttäuschungen lassen sich aushalten, wenn man weiß, wie man es besser machen kann. Es wird immer wieder neue Gelegenheiten und andere Möglichkeiten geben seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, um auf diese Weise auch wieder die Anerkennung von anderen Personen zu gewinnen.

Durch die Gestaltung der öffentlichen Bildungseinrichtungen kann auch die Politik ihren Beitrag leisten ein solches Bewusstsein zu fördern – was jedoch nicht heißt, dass diese Aufgabe ausschließlich die Politik übernehmen muss. Das gesellschaftliche Funktionssystem Erziehung hat sich politischen Kalkülen durch operative Schließung entzogen, was jedoch nicht zwingend ausschließt, dass es trotzdem Versuche der politischen Einflussnahme auf die Erziehung gibt. Nichts desto trotz gilt, Erziehung ist keine exklusive Aufgabe der Politik. Darüber hinaus macht das soziale Leben wesentlich mehr aus als Macht und Geld. Schon Georg Simmel hatte in der Moderne die Tendenz beobachtet, dass die Mittel, die eigentlich zum Erreichen bestimmter Zwecke dienen, selbst zu Zwecken umgedeutet werden (vgl. 1999 [1916], S. 37ff.). Für die Mittel Macht und Geld kann diese Tendenz kaum bestritten werden. Bis heute sind wirtschaftliche, politische oder polit-ökonomische Selbstbeschreibungsangebote für die moderne Gesellschaft vorherrschend, die – egal ob affirmativ oder kritisch – davon ausgehen, dass Macht und/oder Geld die einzig relevanten Ziele im Leben wären. Diese verkürzten Sichtweisen werden kaum den vielfältigen Aspekten des menschlichen Zusammenlebens gerecht. Daher stellt sich die Frage, ob solche einseitigen Gesellschaftsbeschreibungen, die immer noch davon ausgehen, dass es ein dominantes Prinzip gibt, dass alle zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmt, nicht noch Produkte vormoderner Beobachtungsgewohnheiten sind? Diese Frage bezieht sich auch auf Vorschläge, die in der Ersetzung eines dominanten Prinzips durch ein anderes die einzige Lösung sehen. Inzwischen gehören diese polit-ökonomischen Gesellschaftsbeschreibungen jedoch schon zum tradierten Bildungskanon. Für die gegenwärtig häufig beklagten Entfremdungserfahrungen stellen solche verkürzten und damit auch verzerrten Sichtweisen auf die moderne Gesellschaft eine wichtige Rahmenbedingung dar, die zur Verstärkung solcher Entfremdungserfahrungen beiträgt. Auch bei diesen verkürzten Betrachtungsweisen der Gesellschaft handelt es sich um Erkenntnishindernisse. Deswegen ist hier die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme sowie die beteiligten Menschen und ihre Fähigkeiten zur friedlichen Konfliktlösung gefordert, um die Vielfalt des menschlichen Zusammenlebens bewusst zu machen. Erst ein Bewusstsein für die Vielfalt zwischenmenschlicher Konflikte – dieses Bewusstsein prägt sich erst aus, wenn man die jeweiligen Konflikte durchgemacht hat bzw. an ihnen beteiligt war –, schärft zugleich die Wahrnehmung für exkludierende Kommunikationsmuster.


Sind Amok und Terror moderne Phänomene?

Bisher wurden die Phänomene Amok und Terror nur im Kontext der modernen Gesellschaft bzw. der Gegenwart betrachtet. Im Zuge dessen habe ich beide als Abwehrreaktionen und Protestformen gegen moderne Inklusionsmodi beschrieben. Man könnte sie daher durchaus als moderne Phänomene begreifen, denn ohne die Moderne würde es diese Protestformen gegen sie auch nicht geben. In einer rein theoretisch-systematischen Sichtweise kann man das so sehen. Aus einer historischen Perspektive lässt sich diese Auffassung jedoch nicht halten. So führt der etymologische Ursprung des Wortes »Amok« zu den Stammesvölkern der Südsee zurück, die damit bereits die gewalttätige Reaktion eines Stammesmitglieds auf einen Gesichtsverlust bezeichneten, bei dem der Täter sich am Ende zumeist selbst tötete. In der hier eröffneten theoretischen Perspektive erscheinen die heutigen Amokläufe ebenfalls als Reaktion auf einen Gesichtsverlust. Insofern ist die Bezeichnung »Amok« durchaus passend und macht zugleich auf die historische Kontinuität dieses Phänomens trotz variabler sozialer Umstände aufmerksam. Speziell die fehlende sozio-kulturelle Verbindung zwischen den Stammesgesellschaften der Südsee und der modernen Gesellschaft lässt vermuten, dass es bestimmte konstante psychologische Entwicklungsmuster gibt, die durch dieselben sozialen Entwicklungen angeregt werden, auch wenn diese unterschiedliche historische Formen annehmen.

Terror, die willkürliche Anwendung von Gewalt, um den eigenen sozialen Status zu festigen, ist aus historischer Perspektive ebenso wenig ein neues Phänomen – auch wenn diese Methode nicht immer als Terror bezeichnet wurde. Früher griffen jedoch weniger einzelne Personen oder exkludierte Gruppen auf Terror zurück, sondern die etablierten Herrscher. Öffentlichkeitswirksame Massenhinrichtungen sind spätestens seit dem Römischen Reich als Abschreckungs- und Einschüchterungsmethode bekannt. Die Französische Revolution stellt insofern eine Zäsur dar als nun die vormals Unterdrückten zu denselben Methoden griffen. Mit Hilfe moderner Technologien wurden diese Methoden effektiviert. Dieses Muster setzte sich mit den großen Ideologien wie Faschismus und Kommunismus fort. Ihre Führer waren jedoch bemüht diese Herrschaftstechniken unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu perfektionieren. Sie waren sich vermutlich des Widerspruchs bewusst, dass die guten Absichten, die sie zumindest aus dem Selbstverständnis heraus verfolgten, nicht so überzeugend waren, dass alle Menschen sich freiwillig diesen Bewegungen anschlossen. Denn wenn sie es gewesen wären, hätte man niemanden mit einer Gewaltandrohung zur Gefolgschaft bewegen müssen. Durch diesen Widerspruch konnten selbst die faschistischen und kommunistischen Herrscher nicht ignorieren, dass Gewaltanwendung ein Zeichen von Schwäche und Machtlosigkeit ist und damit im Widerspruch zur öffentlich verbreiteten Selbstdarstellung steht. Auf denselben performativen Widerspruch wird heute bei der Diskussion über den Zusammenhang von Islam und dem islamistischen Terror hingewiesen. Deswegen delegitimierte sich Gewaltanwendung selbst unter Regimen, die diese Herrschaftstechniken trotzdem nutzten, und mussten sie daher der öffentlichen Wahrnehmung der eigenen Anhänger entziehen. Dem gegenüber prahlten entsprechende Terrororganisationen, die dieselben Ideen in westlichen Demokratien vertraten, mit ihren Taten in der Öffentlichkeit. Offenbar ist es unter modernen Kommunikationsbedingungen leichter zu seiner Machtlosigkeit zu stehen, wenn man nicht zu den Herrschenden gehört. Terror als Herrschaftstechnik hat also eine lange Tradition. Gleichwohl hat sie sich selbst delegitmiert, eben weil sie nur die Machtlosigkeit der Herrscher vorführt. 

Was sich in der Moderne geändert hat, ist die Selbstbeschreibung einer der beteiligten Parteien. Unter vormodernen Bedingungen standen sich mindestens zwei Parteien gegenüber, die sich beide über unveränderliche Merkmale definierten. Moderne Beschreibungen erkennen dagegen die Veränderlichkeit der Menschen und damit auch die Veränderlichkeit sozialer Strukturen als unveränderliche Prämisse an. Zu den alten Gegnern, die sich über unveränderliche Merkmale definieren, ist also ein neuer Gegner hinzu getreten, der sich über Veränderlichkeit als einzigem unveränderlichen Merkmal definiert. Dadurch ist eine neue Konfliktlinie entstanden, hinter der die alten Konflikte zurücktreten, aber längst nicht beigelegt sind. So wird heute gerne übersehen, dass rechte und linke Ideologien, die sich eigentlich gegenseitig als Gegner betrachten, in ihrer modernisierungskritischen Haltung sehr ähnlich sind. Die Moderne als neuer Gegner eröffnet ungeahnte Koalitionsmöglichkeiten, die erst wieder zerbrechen, wenn der gemeinsame Gegner besiegt wurde. Der Konflikt zwischen beiden dreht sich dann nur noch um die Lösungen für das Exklusionsproblem, aber nicht um das Ziel – Inklusion durch unveränderliche Wesensmerkmale. Obwohl man es dabei mit Residuen vormoderner Semantiken zu tun hat, gibt es immer noch genug Menschen, die solche alten Feindschaften für attraktiv genug halten, um sich in den entsprechenden Konflikten aufzureiben, ohne die formale Gleichheit im jeweils präferierten Gesellschaftsmodell zu erkennen. Für sie zählt nur das unveränderliche Merkmal. Das beste Beispiel dafür ist der rechts-links-Gegensatz, der sich letztlich nur um die Entscheidung dreht, welches unterveränderliche Merkmal zur Basis der Gemeinschaft wird – Rasse oder Klasse (vgl. Plessner 2002 [1924], S. 42ff.). Sie bestimmen die präferierten Lösungen zur Inklusion.

Weder Amok noch Terror können also als moderne Phänomene betrachtet werden. Das liegt vermutlich daran, dass es soziale Exklusion und die Angst vor sozialer Exklusion gibt seit sich Menschen zu Gruppen zusammenschließen. Diese Angst spiegelt sich in wiederkehrenden gewalttätigen Verhaltensmustern wieder. Gemeinschaftsangebote bieten Lösungen des Inklusionsproblems an, ohne die falschen Erwartungen zu korrigieren. Sie werden stattdessen sozialisiert und verstärkt. Dadurch wird es möglich, dass sich persönliche und egozentrische Schemata zur Beobachtung zwischenmenschlicher Beziehungen zu einer Gemeinschaftsperspektive entwickeln. Doch auch die Bildung von Gemeinschaften ist nur eine Möglichkeit mit dem Problem der ständig drohenden Exklusion umzugehen. Gemeinschaftszugehörigkeit löst dieses Problem nur scheinbar dauerhaft. Spätestens wenn es zu unüberwindlichen Differenzen zwischen den Mitgliedern untereinander kommt, kann sich die Gemeinschaft nur noch gewaltsam zusammenhalten. In diesem Moment zeigt sich das eigentlich verbindende Element einer Gemeinschaft, nämlich das Ressentiment gegen abweichende Lebensstile, das sich nun auch nach innen richtet. Verstöße gegen gemeinschaftliche Erwartungen sind zugleich persönliche Beleidigungen ihrer Mitglieder. Entsprechend intensiv ist der Widerstand gegen solche Enttäuschungen. Somit sind auch die Inklusionsmodi solcher Gemeinschaften exklusiv. Dieser Aspekt zeigt sich erst bei inneren Konflikten.


Symbolische Gewalt

Bisher lag der Fokus auf physischer Gewalt als Lösung für die ständige Exklusionsgefahr. Gleichwohl sind Amok und Terror nicht die einzigen Lösungen für Anschlussprobleme. Eine weitere Lösungsmöglichkeit besteht in dem, was als symbolische Gewalt bezeichnet wird. Nicht jede Protestbewegung, die ihre Identität auf einer Position oder auf dem Gefühl der Unterlegenheit gründet, greift zum Mittel der physischen Gewalt. Symbolische Gewalt hat nicht die physische Schädigung oder Vernichtung des Gegners zum Ziel, sondern nur die soziale Schädigung einer Person oder Gruppe mit dem Ziel ihrer Exklusion. Dies gelingt über abwertende, beleidigende oder diffamierende Kommunikationsformen, welche deswegen hier als symbolische Gewalt bezeichnet werden soll. Es handelt sich, mit anderen Worten, um Angriffe auf das Image einer Person oder einer Gruppe. Auch hier kommt wieder der Psychoterror zum Tragen. Wenn es egal ist, was man tut, man z. B. immer als »Ausländer« oder auch als »Rassist« beschimpft wird, dann wird das Verhalten der Beschimpften in Bezug auf die Personen, die diese Zuschreibungen vornehmen, ebenfalls sinnlos. Man kann machen, was man will, man bleibt ein Ausländer oder ein Rassist. Die Betroffenen werden lediglich in eine Ecke gestellt und lässt sie aus dieser Ecke, egal wie sie sich verhalten, nicht mehr heraus. Die Betroffenen werden gleichsam zu Objekten gemacht. 

Viele Protestbewegungen, die sich für moralisch gute Anliegen einsetzen, wie gegen Diskriminierung oder Unterdrückung vorzugehen, haben nicht verstanden, dass sie durch ihre Form des Protests genau die problematischen Exklusionsmuster reproduzieren, die sie an anderen kritisieren. Die Kritisierten wird dies nicht zu einer Änderung ihrer Einstellung oder ihres Verhaltens veranlassen. Denn was die Kritiker vorführen ist die Kontingenz bzw. Austauschbarkeit der Inhalte und die scheinbare Notwendigkeit der Form diese mitzuteilen. Die Form der Kritik liefert den Kritisierten daher das beste Argument sich nicht zu ändern, denn die Änderung könnte dann ja nur darin bestehen, den Kritikern Recht zu geben und ihre Position zu übernehmen. Diese Option kommt aber nicht in Betracht, wenn man das genaue Gegenteil vertritt. Mit der diskriminierenden Form ihrer Kritik liefern sich die Gegner also wechselseitig die Gründe auf der eigenen Position zu beharren. Alles andere müssten sie als Gesichtsverlust, wenn nicht sogar als Verrat an sich selbst betrachten, denn egal wer als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgehen würde, es sähe so aus als hätte er den Willen des Verlierers gebrochen. Auf denselben Sachverhalt ist diese Untersuchung bereits bei Auseinandersetzungen mit physischer Gewalt gestoßen.

Es stellt sich die Frage, warum nicht jede Protestbewegung bereit ist, bis zum Äußersten, dem Einsatz von Gewalt, zu gehen? Hier kommt wieder der bereits angesprochene Widerspruch zum Tragen, dass eine gute Sache zumindest theoretisch alle Menschen überzeugen sollte, es aber offensichtlich nicht tut. Neben Gewalt als Motivationsanreiz gibt es noch die Möglichkeit die gewaltlosen Überzeugungsversuche zu intensivieren, in dem die gute Absicht umso stärker hervorgehoben wird. Je weniger Menschen sich aber trotzdem überzeugen lassen, desto größer ist dann wiederum die Versuchung zu gewaltsamen Mitteln zu greifen, um die Menschen gleichsam zu ihrem Glück zu zwingen. Vor dem Einsatz physischer Gewalt kommt zunächst symbolische Gewalt zum Einsatz. Die gute Absicht als Legitimationsstrategie stellt dabei eine besonders hinterhältige Falle dar. Denn wer wagt es schon gegen eine gute Absicht zu sein. Wer es trotzdem wagt, lässt sich dann umso besser öffentlich als moralisch verwerflich darstellen. An diesem Punkt setzt dann die symbolische Gewalt ein und generalisiert sofort von einer Handlung auf die ganze Person.

Ein Beispiel für diese Vorgehensweise ist die moralisch aufgeladene Semantik der Menschlichkeit. Von allen trennenden Merkmalen, wie biologische, geographische oder standesmäßige Herkunft gereinigt, wird das Mensch-Sein selbst zu einem unveränderlichen gemeinschaftsstiftenden Merkmal. Die ganze Menschheit lässt sich auf diese Weise als eine Gemeinschaft – wenn man so will als eine Weltgemeinschaft – imaginieren. Das zugrunde liegende Menschenbild sieht jedoch vom tatsächlichen Verhalten der Menschen ab und findet das gemeinsame Merkmal in der reinen physischen Existenz, also in ihrer Körperlichkeit. Doch gerade ein solches Menschbild macht die Menschen blind für das was sie zu Personen macht, nämlich ihr Erleben und Handeln. Es konstruiert die Menschen nicht als lebendige Wesen, sondern als passive Objekte oder als triebgesteuerte Maschinen, denen schon aus ihrer puren physischen Existenz bestimmte Anrechte zustehen würden. Das daran anschließende Verständnis der Menschenrechte, versteht Rechte nicht mehr als etwas, was Handlungsfreiheiten definiert, die man selbst aktiv ausfüllen muss, sondern als etwas, was einem zustehen würde, wofür man gerade nichts weiter tun muss. Weil die Rede von »dem Menschen« sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Menschen bezieht, liegt darin zugleich das größte Konfliktpotential. Denn sobald es über die physische Unversehrtheit hinausgeht, ist völlig unklar, was dies für das Zusammenleben der Menschen eigentlich bedeutet.

Zwei Variablen verdienen bei der Evolution der Menschlichkeitssemantik besondere Beachtung. Das ist zum einen wie die Beziehung der einzelnen Menschen zur Bezugsgruppe bestimmt wird und zum anderen die Einstellung zu gesellschaftlichen Veränderungen. Hinsichtlich der Beziehung der einzelnen Menschen zur Bezugsgruppe lässt sich eine ideengeschichtliche Kontinuität bis in die Antike zurückverfolgen. Der sogenannte Eudaimonismus (vgl. Gehlen 2004 [1969]) begriff die Menschen nur in seiner Stellung zu einer Gemeinschaft, also nur als Mitglieder und nicht als Personen. Da die Gemeinschaft nur in ihrem Zustand und nicht in ihrer Entwicklung gesehen wurde, konnten auch die Menschen nur in Bezug auf ihre Funktion zur Erhaltung dieses Zustands, der universelle Glücksseligkeit versprach, verstanden werden, d. h. als unveränderlich in Bezug auf diese Gemeinschaft. Veränderungen waren nur in so weit denkbar, wenn es darum geht den Mitgliedsanforderungen zu entsprechen. Eng damit zusammen hängt ein Kulturpessimismus, der jegliche Art der gesellschaftlichen Veränderung nur als Verfall einer vormals besseren, idealen Ordnung betrachten kann. Häufig wird darüber hinaus die als ideal imaginierte Vergangenheit im Angesicht einer unerträglichen Gegenwart gleichsam als eine Art Utopia in die Zukunft projiziert [10]. Dies macht verständlich wieso sich konservative und reaktionäre Bewegungen linker und rechter Couleur trotzdem als fortschrittlich betrachten konnten. Bei den islamistischen Bewegungen taucht dieses Muster ebenfalls wieder auf. Ihr Zukunftsprojekt besteht ebenfalls darin eine als ideal gedachte und verlorengegangene Ordnung wiederherzustellen.

Die Unveränderlichkeit der Menschen leitet sich aus der Unveränderlichkeit der als ideal gedachten sozialen Ordnung ab. Das Menschenbild und die ablehnende Einstellung zu gesellschaftlichen Veränderungen macht es schließlich möglich dass Bewegungen, die sich aus solchen Ideen speisen, sich als Opfer externer Mächte stilisieren können. Neben der Idee des Verfalls der idealen Ordnung, der aufgehalten werden muss, wird die Idee der Fremdbestimmung hinsichtlich der Beziehung zur Umwelt zu einem dominanten Thema, egal ob in Bezug auf die Gemeinschaft oder ihrer Mitglieder. Dieser Eindruck der Fremdbestimmung lässt sich durch das Beharren auf der eigenen Unveränderlichkeit nachvollziehen, denn dann wird man durch die Prozesse der Umwelt unter Veränderungsdruck gesetzt. Zusammengenommen entsteht daraus eine regressive Narration bzw. Selbstbeschreibung (vgl. De Shazer 2009 [1991], S. 110f.), die wenn sie handlungsleitend wird, zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird.

Ein weiteres Beispiel für Protest durch symbolische Gewalt ist die postmoderne Bewegung, die Gemeinschaftlichkeit durch das Verzweifeln an moderner Komplexität herstellt. Das autoaggressive Moment zeigt sich bei ihr in der Tendenz sich verrückt zu machen. Der Mensch wird nur noch als Opfer von anonymen und unerreichbaren Kräften in der Welt gesehen, denen er hilflos ausgeliefert ist. Gegen diese Kräfte kann man sich nicht wehren – was auch heißt, man kann sie nicht verändern –, sondern man kann sich ihnen nur verweigern. Auch hierbei handelt es sich um eine regressive Narration. Dies wird u. a. durch pseudo-wissenschaftliche Thesen, wie der Zerstörung des Wissens, oder universell anwendbare politische Theorien gestützt [11]. Verrückt machen dann aber nicht die realen Zustände, sondern zunächst einmal nur die Vorstellung bzw. der Glaube, dass die realen Zustände verrückt machen würden. Pseudo-wissenschaftlich sind diese Legitimationsstrategien – auch wenn sie sich auf wissenschaftliche Theorien berufen –, weil sie bestimmte, durchaus realistische Möglichkeiten zu zwangläufig eintretenden Schicksalen umdeuten. Potentiell mögliche Ereignisse werden dann als gleichsam zwangsläufig eintretende Ereignisse wahrgenommen. Durch diese selektive Rezeption der Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung können dann entweder Erlösungs- oder Untergangsszenarien entworfen werden. Die verrückte Wendung der Postmoderne besteht darin, dass sie im Untergang die Erlösung sieht. In jedem Fall wird die Offenheit und Ungewissheit der Zukunft durch ein mechanistisches Deutungsschema zur beunruhigenden Gewissheit [12].

Die postmoderne Bewegung ist letztlich nur das Opfer ihrer eigenen zu einfach gestrickten Deutungsschemata. Das liegt auch daran, dass es sich bei der postmodernen Bewegung um eine Art Laiendiskurs handelt. Mit unterkomplexen Deutungsschemata wird versucht zu komplexe Sachverhalte zu verstehen. Letztlich wird versucht moderne Probleme mit vormodernen Mitteln zu verstehen. Die häufig beklagte Überforderung ist letztlich nur ein Ergebnis dieses Komplexitätsgefälles an dem sich der Unterschied zwischen Laien und Experten auskatalysiert. Exemplarisch sei dafür auf die postmoderne Rezeption der modernen Epistemologie verwiesen. Relativität wurde als Relativismus missverstanden. Da der postmoderne Relativismus keinen Halt mehr in sich selbst finden kann, weil er sich aller Entscheidungskriterien entledigt hat, wird Subjektivität bzw. Egozentrismus zum letzten epistemologischen Haltepunkt, der ironischerweise zugleich als gemeinschaftsbegründendes Moment dient. Auch die Diskussion über soziale Hybridität ist im Fahrwasser postmoderner Epistemologie entstanden. Aus dieser egozentrischen Epistemologie wird verständlich, wieso postmoderne Diskurse sehr emotional und persönlich geführt werden. Unwissenheit macht gleichgültig und aggressiv. Argumente werden durch persönliche Befindlichkeiten und Geschmack als Anschlussattraktoren ersetzt, die sich nicht mit Argumenten rechtfertigen lassen. Sicherheit und Zugehörigkeit lassen sich dann nur noch über den Ausdruck gefühligen Wohlwollens herstellen. Kulturgeschichtlich muss man dies wohl schon als eine regressive Entwicklung betrachten [13].

Kognitiv und emotional gegen jegliche Irritationen immunisiert, lassen sich dann mit den vermeintlichen Gegnern umso besser etwas spielen, was Mara Selvini Palazzoli et al. als psychotische Spiele bezeichnen (vgl. 1992 [1988]). Amok und Terror sind aus dieser Perspektive Spielzüge im Kampf um Beachtung und Anerkennung. Nicht nur Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen, gewaltsamen Mitteln. Dies gilt ebenso für psychotische Spiele, sobald sie außerhalb der Familie fortgesetzt werden. Auch sie sind die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln  in Friedenszeiten. Das Mittel ist in diesem Fall symbolische Gewalt. Die postmoderne Selbstpathologisierung wird als Vorwand benutzt, um eine moralische Anklage gegen diejenigen Personen vorzubringen, die es geschafft haben ihre Probleme selbst zu lösen. Aus der eigenen Lernunwilligkeit wird der Vorwurf abgeleitet, dass die vorhandenen Hilfsangebote nicht funktionieren und sie daher nur eine Herrschaftstechnik sein können, um die Menschen zu unterdrücken und auszubeuten. Die wahrgenommene Sinnlosigkeit der Hilfsangebote rechtfertigt dann jede noch so infantile Provokation und Beleidigung.

Die Tragik solcher Spielzüge besteht darin, dass man sie zwar nicht ignorieren kann, man kann sie aber als akzeptable Spielzüge ebenso wenig akzeptieren. Auch wenn es so gut wie unmöglich ist, so etwas vorsätzlich zu planen, sieht es doch so aus, als würde damit versucht durch den Verzicht auf physische Gewalt, wenn man so sagen darf, unterhalb des staatlichen Radars zu fliegen. Stattdessen werden die zwischenmenschlichen Beziehungen vergiftet, indem man alles, auch jede noch so bedeutungslose persönliche Lebensentscheidung,  als politische begreift. Das bedeutet die Freund-Feind-Unterscheidung wird auf jede zwischenmenschliche Beziehung angewendet und wer anderer Ansicht ist, wird automatisch zum Feind – wenn auch eher gefühlt als bewusst zugeschrieben. Abwehr und Protest werden durch das so geschaffene wechselseitige Misstrauen zu einer Art automatischem Reflex. Als Kommunikationsereignis wird damit aber nur die Verweigerung zur Kommunikationsbeteiligung mitgeteilt. Man könnte auch sagen, es handelt sich um Kommunikationsverweigerungskommunikation. Darin liegt dann wieder die soziale Funktion aller Protestformen gegen moderne Inklusionsmodi, egal ob Amok, Terror oder die diversen Formen symbolischer Gewalt. Die Protestformen, die nicht auf physische Gewalt setzen, sind nur wesentlich schwerer als mitgeteilte Verweigerung, was zugleich die Ablehnung des Kommunikationspartners impliziert, zu erkennen, weil sie zugleich eine Form der Kommunikationsbeteiligung sind.


Sind psychische Störungen eine mögliche Erklärung?

Wenn ich Amok und Terror als psychotische Spiele beschreibe, könnte der Eindruck entstehen, dass es darum geht Amokläufer und Terroristen lediglich als psychisch gestört zu beschreiben. Durch die sozialpsychologische Argumentation wird eine solche Lesart durchaus nahegelegt. Vergleicht man Gemeinschaftsbeschreibungen, die auf einem unveränderlichen Merkmal gründen, dann ähneln diese in ihrer Struktur – oder besser in ihrer Konstruktionsweise, also der Verknüpfung bestimmter Vorstellungen und Erwartungen – psychotischen Wahrnehmungen. Rekonstruiert man den aus der Gemeinschaftsbeschreibung abgeleiteten Mitgliedsstatus der beteiligten Personen, dann handelt es sich aufgrund des dominanten, unveränderlichen Merkmals um eine Petrifikation bzw. Depersonalisierung (vgl. Laing 1976 [1960], S. 39f.). Das unveränderliche Merkmal beschränkt die Mitglieder zwar nicht vollständig in ihrer Handlungsautonomie. Diese stößt aber an Grenzen sobald Mitglieder als Personen beobachtbar werden. Personen unterscheiden sich von Mitgliedern und stellen auf diese Weise die Gemeinschaft und alle ihre Mitglieder infrage. Innerhalb der Gemeinschaft und sogar zwischen Gemeinschaften, die sich über unveränderliche Merkmale definieren, wird diese Konsequenz wahrscheinlich nicht weiter auffallen, denn sie kennen nur Mitglieder. Insofern werden auch die daran anschließenden Exklusionsversuche nicht als problematisch betrachtet. Verändern sich jedoch die Umweltbedingungen, z. B. dadurch, dass Veränderlichkeit selbst zum dominanten Attribut der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung wird, muss eine Person, die ihr Handeln an einem unveränderlichen Merkmal orientiert, als Abweichung auffallen. Das Problem dabei ist weniger das unveränderliche Merkmal, sondern das Handeln, das dadurch motiviert wird – speziell wenn es zu physischer und symbolischer Gewalt gegen andere Personen führt. Nicht die psychische Störung ist das soziale Problem, sondern das daraus folgende gewalttätige Verhalten. Nicht jede psychische Störung, sofern man darunter eine verzerrte Wahrnehmung versteht, führt zwangsläufig zu gewalttätigem Verhalten. Insofern könnte man zwar sagen, dass Amokläufer und Terroristen psychisch gestört sind. Als Erklärung reicht das aber nicht aus, da es noch nicht das gewalttätige Verhalten erklärt. Auch das unveränderliche Attribut in der Selbstbeschreibung liefert nur den Ansatzpunkt der Analyse, aber noch keine hinreichende Erklärung. Darüber hinaus muss geklärt werden, wie dieses unveränderliche Merkmal die wahrgenommenen Handlungsoptionen einschränkt und welche dadurch noch übrig bleiben. Dies gilt für die Analyse der Selbstbeschreibungen von Personen, Organisationen und Gesellschaften gleichermaßen.

Bei dem Massenmord in Charleston am 17.06.2015 wurde das Erklärungsmuster psychische Störung herangezogen und erregte sofort Einspruch, da der Täter Dylann Roof sich auf rassistische Motive berief. Besonders dieser Fall veranschaulicht, wie genau man heute hinschauen muss, um beurteilen zu können, ob es sich bei dieser Tat um einen Terrorakt oder einen Amoklauf handelt. Aufgrund der Tatsache, dass der Täter sich nicht selbst umgebracht hat und freimütig Rassismus als Motiv angibt, scheint es sich relativ klar um einen Terrorakt zu handeln. Gleichwohl ergeben sich schon aus den spärlichen Informationen zu dem Täter Zweifel, ob diese Deutung angemessen ist. Sicherlich sind rassistische Vorurteile weit verbreitet. Nach derzeitigem Kenntnisstand war der Täter jedoch kein Mitglied einer rassistischen Vereinigung. Er unterfütterte seine Vorurteile lediglich durch Informationen, die er aus dem Internet bezog. Er hatte jedoch keine Bezugsgruppe, in der diese Vorurteile irgendeine Handlungsrelevanz gehabt hätten, um die Anerkennung von anderen Personen zu gewinnen. Vielmehr war er sozial sehr stark isoliert. Berücksichtigt man diesen Sachverhalt, müsste man seine rassistische Einstellung als illusionär oder psychotisch betrachten. Sie diente lediglich dazu, sich selbst das eigene Versagen zu erklären, in dem anderen Personen dafür die Schuld gegeben wird. Für sein alltägliches Verhalten, im Sinne von aggressivem oder gewalttätigem Verhalten, hatte sie aber zunächst keine Relevanz. Dann wäre Dylann Roof mit seiner Tat als Vertreter einer Gruppe in Erscheinung getreten, die es faktisch nicht gibt. Eine rassistische Einstellung allein begründet aber noch nicht die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe. Daher könnte man wohl in diesem Fall mit einiger Berechtigung von privatistischem Terror sprechen. Darüber hinaus ergibt sich jedoch der Verdacht, dass es sich bei der Tat um den verzweifelten Versuch handelte endlich die ersehnte Anerkennung von den Personen oder Gruppen zu gewinnen, in deren Sinne er glaubte zu handeln. Obgleich es sich bei der Tat offensichtlich nicht um einen Amoklauf gehandelt hat, ergeben sich nach dieser Überlegung Zweifel, ob man diese Tat dann noch als Terroranschlag betrachten kann. Auch wenn sich der Täter auf ein sozial weit verbreitetes Deutungsmuster beruft, muss dieses Muster bei Berücksichtigung der konkreten Situation des Täters als hoch illusionär betrachtet werden. Dann hätte eine psychische Störung als Teil der Erklärung für die Tat doch wieder ihre Berechtigung. Die Unterscheidung von Amok und Terror wird allerdings gesprengt, denn die Tat war streng genommen keines von beidem.

Der Fall Dylann Roof stellt die Unterscheidung von Amok und Terror jedoch nicht infrage, sondern macht nur auf die Grenzen dieser Unterscheidung aufmerksam. Denn die Annahme, von der aus versucht wurde Amok und Terror zu verstehen, wurde auch durch diesen Fall bestätigt. Es ging nicht primär um den Ausdruck von rassistischen Vorurteilen, sondern um die Anschlussfähigkeit der Person. Im Fall von Dylann Roof ging es aber nicht darum sein Gesicht zu wahren und es ging nur augenscheinlich um die Mitteilung einer politischen Forderung. Möglicherweise ging es nur darum mit dieser Tat die Aufmerksamkeit und Anerkennung von bestimmten Personen zu erlangen – Personen, die für Roof offenbar eine plausible Erklärung für seine Situation anboten, zu denen er aber bisher keinen persönlichen Kontakt hatte. Vereinfacht aus gedrückt, er hat versucht auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen, um Anschluss zu finden.

Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft vermehrt die Inklusionsmöglichkeiten und wirkt auf diese Weise der Versuchung entgegen, seine Interessen mit Gewalt durchzusetzen. Je mehr gewaltlose Inklusionsmöglichkeiten es gibt, desto schwerer wird es Gewalt zu legitimieren. Und desto leichter wird der Einsatz von Gewalt als persönliche Entscheidung beobachtbar. Dies ändert sich auch nicht, wenn die persönlichen Motive sozial anschlussfähig werden und sich zu Gemeinschaftsmotiven verstärken. Insofern ist es müßig darüber zu diskutieren, ob die Ursache für die Tat von Dylann Roof Rassismus oder eine psychische Störung war. Der Unterschied zwischen einer menschenverachtenden Ideologie und einer Psychose liegt womöglich nur in der Anzahl der Personen, die sie teilen. 

Der Schlüssel zum Verständnis dessen, was vorgefallen ist, liegt in dem Problem persönlicher Anschlussfähigkeit. Davon ausgehend ist zu klären, wie die Unveränderlichkeit eines Attributs und dessen dominante Rolle das Erleben und Handeln des Täters beeinflusst. Egal ob sich eine solche Selbstbeschreibung auf Personen oder Gruppen bezieht, es handelt sich in jedem Fall um eine Selbst-Petrifikation. Je nachdem mit welcher Radikalität auf der Unveränderbarkeit bestanden wird, kann es tödliche Konsequenzen für andere Personen haben, für die diese Selbstbeschreibung nicht bindend ist. Durch jegliche Gewalt wird letztlich versucht die Autonomie der Opfer zu negieren und sie dadurch vollständig zu verdinglichen. Gewalt als Versuch die Opfer zu petrifizieren, ist nur die Folge dieser Selbstpetrifikation durch ein unveränderliches Merkmal.


Zusammenfassung

Ich habe mich in diesem Beitrag nur mit den zwei aufsehenerregendsten Lösungen für das Exklusionsrisiko beschäftigt, die sich durch ihren öffentlichkeitswirksamen Einsatz von Gewalt auszeichnen. Durch die Berücksichtigung der persönlichen Beteiligungsgeschichte, die aber primär als Exklusions- bzw. Integrationsgeschichte erzählt werden kann, wenn man davon ausgeht, dass Exklusionen stärker integrieren als Inklusionen (vgl. Luhmann 1997, S. 631f.), werden auch die fließenden Übergänge berücksichtigt ohne jedoch die politische Dimension dieser Phänomene zu verkennen. Auf diese Weise lässt sich die Unterscheidung sowohl soziologisch als auch politisch fruchtbar machen. Die Konzentration auf Amok und Terror ermöglichte es die allgemeinen Muster in den korrespondierenden sozialen und psychischen Entwicklungen zu beschreiben, die jedoch im Einzelfall immer noch sehr unterschiedliche Formen annehmen können. Es hat sich gezeigt, dass die Unterscheidung von Amok und Terror nur sinnvoll getroffen werden kann, wenn man die Vorgeschichte der Täter berücksichtigt. Durch die Unterscheidung verschiedener Formen von Gewalteinsatz wird darüber hinaus ein fließendes Kontinuum eröffnet. Es wurde nicht nur eine Theorie über Amok und Terror vorgestellt, sondern eine allgemeine Theorie der Gewalt. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass die Anwendung von physischer Gewalt nur der extremste Versuch ist, das Problem persönlicher Anschlussfähigkeit zu lösen. Bewegt man sich auf die Mitte dieses Kontinuums zu, so kommen auch die Formen symbolischer Gewalt in den Blick, wenn man darunter abwertende Verhaltensweisen, wie persönliche Schuldzuweisungen oder Beleidigungen, versteht. Die Ablehnung anderer Personen dient der Aufwertung des Selbst. Ich habe dabei vor allem die gewaltlosen Formen diverser radikaler Protestbewegungen, egal welcher politischen Richtung, im Blick. Doch auch diverse Phänomene, bei denen nicht die Politik der Adressat ist, kommen dabei in den Blick, wie Stalking, Mobbing oder Trollen [14]

Streng systemtheoretisch betrachtet, handelt es sich bei Amok und Terror um Ereignisse im symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Macht. Jedes Ereignis in diesem Kommunikationsmedium reproduziert die Differenz von machtüberlegen und machtunterlegen. Da Amok und Terror das Drohpotential fehlt, reproduzieren sie Formen der Machtunterlegenheit und schließen damit auf der Außenseite der Politik an. Sie informieren nur über die Machtlosigkeit der Täter. Weil die Politik diesen Ereignissen ebenso machtlos gegenübersteht, bleiben sie irrelevant, eine politische Anomalie. Es sind Meldungen aus Exklusionsräumen, in denen Menschen nur noch unter dem Gesichtspunkt der Körperlichkeit relevant werden - im Falle von Gewalt unter dem Gesichtspunkt der physischen Vernichtung. Bei Amok und Terror handelt es sich daher nicht um soziale Systeme, denn sie reproduzieren weder die Differenz von anwesend/abwesend noch die von Mitglied/Nicht-Mitglied, noch die von machtüberlegen/machtunterlegen, sondern allenfalls die von Desintergration/Integration. Amokläufer und Terroristen sind in ihren Handlungsmöglichkeiten so stark eingeschränkt, dass ihnen nur Gewalt als letztes Mittel bleibt. In diesem Sinne sind sie zu stark integriert. Als Protestformen bleiben Amokläufe und Terroranschläge singuläre Ereignisse ohne Systembildungspotential  was jedoch nicht bedeutet, dass sie auf einige Personen nicht eine gewisse Faszination ausüben können, die zur Nachahmung einlädt. 

Mit den Ausführungen über symbolische Gewalt habe ich versucht zu zeigen, dass der Beobachtungshorizont, der hier aufgespannt wird, weit über die Phänomene Amok und Terror hinausgeht. Der Einsatz symbolischer Gewalt kann den Einstieg für einen Radikalisierungsprozess darstellen. Die Radikalisierung bis zur Akzeptanz physischer Gewalt ist jedoch keine automatische oder zwangsläufige Entwicklung. An den Beispielen Amok und Terror lässt sich der Zusammenhang zwischen sozialer Exklusion und der Neigung zu gewalttätigem Verhalten am deutlichsten herausarbeiten. Die Erweiterung des Beobachtungshorizonts gelingt jedoch nicht, wenn man sich von der binären Struktur einer Unterscheidung verwirren lässt, sondern mit der Unterscheidung beobachtet und die verwendeten Begriffe differenziert, damit präzisiert und in einen allgemeineren theoretischen Rahmen stellt. Erst dann lassen sich allgemeinere Muster beobachten, die sich dann in Phänomenen wieder finden lassen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Mit einer einzigen Unterscheidung kann man solche Muster weder beschreiben noch erklären.


Ein offenes Problem: die unkritische Akzeptanz jeglicher Protestformen

Bei dem Versuch zwischen Amok und Terror zu unterscheiden, ist diese Untersuchung auf den Sachverhalt gestoßen, dass es formale Gemeinsamkeiten in den Konstruktionen von psychotischen Beobachtungsmodi und den Beobachtungsmodi von Protestbewegungen gibt. Dass dieser Sachverhalt als methodisches Problem noch nicht stärker in den sozialwissenschaftlichen Fokus gerückt ist, liegt möglicherweise an der nach wie vor bestehenden Fächertrennung zwischen Soziologie und Psychologie. Da es sich bei persönlicher Anschlussfähigkeit aber nicht nur um ein wissenschaftliches, sondern um ein gesellschaftliches Problem handelt, stellt sich die Frage, ob es für die Untersuchung solcher Probleme noch berechtigt ist, auf dieser Trennung zu beharren? Oder handelt es sich bei dem Beharren auf dieser Trennung vielleicht selbst schon um ein psychotisches Spiel? Es hat den Anschein als hätte sich der Gegensatz zwischen Kollektiv und Individuum in dieser Fächertrennung verfestigt. Geht man jedoch von der zwischenmenschlichen Dyade als theoretischen Bezugspunkt bzw. als Kommunikationsmodell aus [15], wird der Gegensatz zwischen Kollektiv und Individuum selbst als ideologischer beobachtbar. Damit soll nicht bestritten werden, dass es immer wieder zu Konflikten kommt, die durch diesen Gegensatz strukturiert werden. Bestritten wird lediglich die Geltung von Gemeinschaftsentwürfen, bei denen Menschen nur als Mitglieder exklusiver Kollektive vorstellbar sind und diese Kollektive gleichsam als existentielle Bedingung für das menschliche Leben gedacht werden. Zumindest in der Soziologie sind immer noch diverse Theorieangebote verbreitet, die sich an einem scheinbar wissenschaftlichen Entwurf solcher exklusiven Gemeinschaftsmodelle versuchen und auch nach politischer Anschlussfähigkeit streben. Weniger ambitionierte Versuche beschränken sich darauf ihre misanthropischen Ressentiments in die Form einer wissenschaftlichen Theorie zu bringen. Aufgrund der dadurch ausgedrückten Ablehnung müssen solche Versuche bereits als symbolische Gewalt betrachtet werden. Ähnlich wie politische Ideologien leisten sie damit einen nicht unerheblichen Beitrag zur Verstärkung von Radikalisierungstendenzen. Der Besuch eines sozialwissenschaftlichen Seminars kann in dieser Hinsicht einen ähnlichen Effekt haben, wie ein Gefängnisaufenthalt. Wenn sozial- und geisteswissenschaftliche Seminare als funktionale Äquivalente zu Gefängnissen beobachtbar werden, wird die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion dieser Studiengänge akut.

Dieses Problem ist letztlich aber nur ein Symptom für ein viel grundlegenderes Problem, nämlich die zumindest in Deutschland bisher unzureichend geklärte Frage nach der Legitimität von verschiedenen Protestformen. In der Diskussion um politischen Protest und Konfliktaustragung wird meines Erachtens zu wenig beachtet, dass es sich bei Protestbewegungen, die für sich in Anspruch nehmen für alle zu sprechen, um die Entgrenzung der von Selvini Palazzoli et al. beschriebenen psychotischen Spiele der Familie handelt. Es würde sich vermutlich lohnen, mit den von Selvini Palazzoli et al. entwickelten Modellen und Begriffen die Formen radikaler Protestbewegungen zu untersuchen [16]. Das problematische Verhalten entzündet sich immer an enttäuschtem Vertrauen in moderne Inklusionsmodi, an deren Geltung vormals geglaubt wurde. Es wurden aber immer nur die Ziele und deren Vorteile hervorgehoben, aber kaum auf die Anstrengungen, die das Erreichen dieser Ziele kostet, hingewiesen. Einen großen Teil dieser Anstrengungen nehmen dabei die Auseinandersetzungen mit anderen Menschen ein, die unvermeidlich auch mit Fehlschlägen und Niederlagen verbunden sind. Der verkürzte Blick auf die Ziele, ohne den beschwerlichen Weg der Zielerreichung zu beachten, hat eine illusionäre Anspruchshaltung gefördert, die zwangsläufig enttäuscht werden muss.

Eine Rekonstruktion gesellschaftlicher Konflikte mit sozialpsychologischen Mitteln macht die ganze Tragweite dieser Konflikte bewusst. Bis heute ist es eine relativ erfolgreiche Strategie persönliche Probleme zu gesellschaftlichen Problemen umzudeuten, um sie politisch anschlussfähig zu machen. Bis heute beteiligen sich auch diverse als wissenschaftliche Theorien getarnte politische Unternehmungen an dieser Umdeutung. Sie bezeichnen sich mit Vorliebe als »kritisch«. Sie beteiligen sich aber nur an der Verbreitung und Kultivierung egozentrischer Beobachtungsmodi, die erst die Probleme schaffen, die man bekämpfen will. Umso größer ist dann die Enttäuschung, wenn es nicht gelingt, sondern die Probleme immer größere Ausmaße annehmen. Mithin handelt es sich häufig um Probleme, die keiner politischen Regulierung bedürfen. Wenn sich die Politik tatsächlich solcher Probleme annehmen sollte, geht mit der Entgrenzung der psychotischen Spiele radikaler Protestler auch eine Entgrenzung des Politischen selbst einher. Das Politische, also das Drohen mit und die Anwendung von Gewalt, wird am Ende alle zwischenmenschlichen Beziehungen dominieren. Das dadurch entstandene soziale Chaos kann nur ein totalitärer Staat mit brutaler Gewalt wieder unter Kontrolle bringen.

Dies ist keine zwangsläufige Entwicklung, aber eine durchaus realistische Möglichkeit – die 1933 in Deutschland auf demokratischem Wege bereits einmal eingetreten ist –, wenn man leichtfertig Verständnis für und Akzeptanz von gewalttätigem Verhalten vermischt. Das Verstehen einer Handlung bedeutet nicht zwangsläufig sie zu akzeptieren. Ich habe lediglich versucht zu verstehen, warum Menschen zu gewalttätigem Verhalten neigen können. Deswegen ist es noch lange nicht akzeptabel, selbst wenn damit noch so gute Absichten verbunden sind. Die Gefahr unkritischer Akzeptanz von gewalttätigem Verhalten ist aber zumindest dann relativ groß, wenn ein paternalistisches Politikverständnis, ein fehlender Sinn für das Politische, ein romantischer Blick auf die vermeintlich Unterlegenen und die daraus abgeleitete moralische Überlegenheit der Unterlegenen sozial weit verbreitet sind. Deutschland ist dafür immer noch ein fruchtbares Milieu. Mit der Akzeptanz von gewalttätigem Verhalten als Mittel, die eigenen Ziele zu verfolgen, wird auch der Unterschied von Freund und Feind in zwischenmenschlichen Beziehungen mindestens als gefühlter reproduziert. Speziell Unterlegenen oder sich unterlegen Fühlenden wird immer wieder gerne zugestanden, sich mit Gewalt zu wehren, ohne genau danach zu fragen, welche Rolle sie eigentlich in der konfliktbeladenen Beziehung spielen, in der sie es für notwendig halten zu Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung zu greifen. Wenn man auch nur selektiv einer bestimmten Gruppe das Recht zugesteht Gewalt anzuwenden, korrumpiert sich eine gesellschaftliche Ordnung, die den Gewaltverzicht zur Voraussetzung hat, selbst, denn sie setzt damit eine unkontrollierbare Spirale der Gewalt in Gang. Symbolische Gewalt bildet dabei nur den Einstieg und endet, sofern die Eskalation nicht gestoppt werden kann, in physischer Gewalt.

Ein naives, romantisiertes Verständnis von Protest und Kritik, das sich von bloßer Abwehr und Verweigerung nicht unterscheidet, kann sich eine moderne Gesellschaft daher nicht mehr leisten. Dieses Verständnis von Kritik geht über bloßes Negieren, sei es in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht, nicht hinaus. Ihre Wurzeln sind tief in einem stratifikatorischen Verständnis von Gesellschaft verankert, das selbst wiederum mit einer egozentrischen Wahrnehmung korrespondiert. Die Kritik um des Kritisierens willen steht an oberster Stelle – ausschließlich, ausschließend und unbedingt –, ungeachtet der Form oder des Inhalts der Kritik. Sie ist defensiv und verteidigt nur das Bestehende – sich selbst –, ganz egal für wie progressiv sie sich hält. Kritik, die nicht nur zerstören, sondern etwas verändern soll, hört nicht beim naiven Negieren auf, sondern fängt nach der Negation erst an ihre Argumente zu entwickeln. Nein zu etwas zu sagen ist einfach. Etwas begründet zu bejahen ist dagegen schwer. Kritik, die nicht in der Lage ist, Alternativen zum Kritisierten zu entwickeln, verstärkt nur den Eindruck der Alternativlosigkeit. Sie ist eine intellektuelle Sackgasse, da sie das Negieren bzw. sich selbst bereits für die Alternative hält. Das Mittel wird zu seinem eigenen Zweck. Naive Kritik lehnt jede Form ab, ist selbst aber nicht in der Lage neue Form zu geben und findet nur darin ihre eigene Form.

Im Sinne von Michel Serres ist diese Form der Kritik parasitär (vgl. 1987 [1980]). Sie fordert, aber gibt nichts. Ihre Attraktivität erhält sie nur dadurch, dass sie die Menschen mit ihren eigenen naiven, egozentrischen und unrealistischen Wünschen ködert. Wer jedoch die Realität an unrealistischen Maßstäben misst, kann nur enttäuscht werden. In dieser Form kann Kritik ihr Publikum lediglich frustrieren, ihm aber keinerlei Hoffnung oder gar Vertrauen geben. Sie raubt wertvolle Zeit und Energie und verschwendet sie in sinnlosen Kämpfen. Das einzige, was diese Form der Kritik den Menschen gibt, ist das trügerische Gefühl zu den Guten zu gehören. Und nicht wenige sind bereit für dieses Gefühl den damit verbundenen Schmerz zu ertragen. Diese Form der Kritik ist nicht modern, sondern führt direkt zurück an den Anfang. In der radikalen Ablehnung der Welt zu Gunsten einer illusionären Utopie wurde nicht bemerkt, dass damit bereits Gewalt als einziges Mittel der Kommunikation akzeptiert wurde. In aller Radikalität betrieben, bringt sie lediglich ihre menschlichen Träger dazu sich gegenseitig zu vernichten. Das Politische als Möglichkeit der physischen Vernichtung ist in ihr immer schon angelegt. Ob sich diese Möglichkeit realisiert, ist eine Frage, in welcher Radikalität diese naive Kritik betrieben wird. In sich selbst findet sie keine Grenzen. Der Feind, den diese Kritik zu bekämpfen versucht, ist nicht der Andere, es ist sie selbst, die ihre eigenen schlechten Seiten immer nur bei den Anderen erblicken kann, aber niemals im eigenen Verhalten. Naive, abwehrende Kritik, wenn man sie überhaupt als Kritik bezeichnen kann, ist daher selbstzerstörerisch – sozial und psychisch. Als Form, die Welt und sich selbst zu beobachten, liegt sie auch den Denk- und Verhaltensmustern von Amokläufern und Terroristen zugrunde. Diese Form der Kritik bzw. des Protests zu kritisieren, ist daher immer auch ein Beitrag zur Gewaltprävention. Dazu muss man diese Protestformen jedoch zunächst verstanden haben. Dieser Text sollte ein Beitrag zu beidem sein  Verständnis und Kritik.







*1999 [1918], S. 185
[1] Wer glaubt, bereits heute würde eine totale Überwachung stattfinden, sollte dringend sein Verständnis des Wortes »total« überprüfen. Auch wenn ein derartiger Eindruck immer wieder in den Massenmedien erweckt wird, eine totale Überwachung, wie man sie vielleicht aus Romanen wie George Orwells »1984« kennt, findet faktisch nicht statt. Wenn es wirklich eine solche Überwachung geben würde, dürfte es eigentlich keine Kriminalität und keinerlei politische Opposition mehr geben. Genauso wie es nach wie vor noch Kriminalität gibt, so können auch alle möglichen politischen Protestbewegungen immer noch frei ihre Anliegen äußern – auch die, die gegen die Überwachung der NSA protestieren. Einen besseren Beweis für die völlige Überschätzung der heutigen technischen Möglichkeiten lässt sich kaum finden.
[2] Wichtig ist es den Zusatz »mit Hilfe« zu beachten, denn die Idee, die Anschlussfähigkeit der Person auf gesellschaftstheoretischer Ebene als Problem zu behandeln, scheint mir eine Konsequenz aus der Luhmann’schen Theorieanlage zu sein ohne das Luhmann sie selbst in der Schärfe gezogen hat. Sie ist aber meiner Ansicht nach in den Texten zur Form Person (vgl. 2005 (1991]) und zu Inklusion/Exklusion (vgl. 2005 [1994]) angelegt. Zum ersten Mal bin ich bei der Analyse der Exklusionsmuster von potentiellen Amokläufern von diesem Problem ausgegangen, um Amokläufe als eine Lösung dieses Problems zu beschreiben. Siehe hier.
Wichtig ist zu betonen, dass es mir um den Zusammenhang von sozialen Integrationsprozessen und psychischen Entwicklungen geht. Kritiken, die mir vorwerfen, ich würde Amok und Terror lediglich aus der inneren Motivation der Täter erklären, greifen daher zu kurz. In dem Text »Kommunikation und Image« habe ich die allgemeinen sozialpsychologischen Annahmen dargestellt. Eine wichtige psychische Bedingung für Kommunikation scheint mir die Angst zu sein, dass der oder die Kommunikationspartner die eigene Person nicht genauso sehen, wie man selbst. Daraus kann sich dann ein pathologisches Misstrauen entwickeln. Diese wahrgenommene Differenz zwischen Selbst- und Fremdbild kann wiederum ein psychischer Katalysator für soziale Exklusionsprozesse sein, denn sie wird auch das Handeln der Betroffenen beeinflussen. In Deutschland hat diese Angst vor dem Blick der Anderen zu einem irrationalen Fetisch der Privatheit geführt.
[3] Eine ausführliche Darstellung der einzelnen Bezugsprobleme der Funktionssysteme habe ich in »Die Beobachtung der Beobachtung 3.1 – Funktionale Differenzierung« gegeben.
[4] Sofern die Gewaltanwendung nicht zum Tode führt, kann die von der Person, die Gewalt anwendet, geforderte Handlung vom Opfer immer noch nachgeholt werden, um die weitere Anwendung von Gewalt zu vermeiden. Auf diesem Prinzip beruht Folter. Doch dies macht zugleich die unter Folter erpressten Geständnisse so unglaubwürdig. Das Motiv ist nicht die Mitteilung verlässlicher Informationen, sondern die Vermeidung von Gewalt. Dies kann einige Personen dazu bringen, alles zu erzählen, was man von ihnen hören will.
[5] Siehe dazu hier.
[6] Durkheim sah im exzessiven Individualismus bzw. einem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl die Ursache für egoistische Selbstmorde. Kommunikationstheoretisch interpretiert, handelt es sich bei diesem exzessiven Individualismus um Ausschlusstendenzen. Bereits Durkheim betrachtete also den egoistischen Selbstmord als eine Lösung des Problems der Anschlussfähigkeit einer Person. Obgleich er in seiner Selbstmordstudie Amok und Selstmordanschläge nicht berücksichtigte, sind viele seiner Überlegungen zum egoistischen Selbstmord auch für diese Phänomene relevant.
[7] Dies ist keine Anspielung auf den gleichnamigen Roman von Michel Houellebecq.
[8] Siehe zu dieser Vorliebe der Massenmedien meinen Text »Die Beobachtung der Beobachtung – Exkurs über Massenmedien«.
[9] Bei der Verkehrung der Ohnmacht in Allmacht handelt es sich bei genauerer Betrachtung um eine Pervertierung oder Subversion. Im Text spreche ich jedoch von Radikalität. Hier ergab sich für mich die Frage, ob Radikalität nicht zwangsläufig zur Pervertierung oder Subversion dessen führt, was radikalisiert werden soll?
[10] Den Begriff »Kulturpessimismus« übernehme ich von Fritz Stern (vgl. 2005 [1961]). Obwohl er ihn zunächst nur für die Bezeichnung einer intellektuellen Bewegung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Deutschland verwendete, die schließlich im Nationalsozialismus ihre politische Form annahm, machte er auch darauf aufmerksam, dass es sich bei dem Grundmuster nicht um eine ausschließlich deutsche Bewegung handelt. Die verhasste Gegenwart soll zugunsten einer idealisierten Vergangenheit zerstört werden. Somit wird in der Vergangenheit die Zukunft gesehen (vgl. Stern 2005 [1961], S. 7). Das konservative und pessimistische Element entspringt einem als unveränderlich gedachten Attribut, das unvermeidlich mit den unaufhaltsamen gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen in Konflikt geraten muss.
[11] Gemeint ist hier z. B. die politische Theorie Foucaults, der unter Politik nichts anderes verstand als Entscheidungen zu treffen. Mit anderen Worten, Foucault setzte Politik mit Organisieren gleich. Da jedoch nicht nur in der Politik Entscheidungen getroffen werden, sondern überall dort, wo Organisationsbedarf besteht, hat er einen Politikbegriff gebildet, der sich auf jegliche zwischenmenschliche Beziehung anwenden lässt. In diesem Sinne ist sein Politikbegriff universell. Macht lässt sich dann ebenfalls in jeder Situation entdecken, wenn damit auf ein Moment der Willkürlichkeit bei jeder Entscheidung hingewiesen werden soll. Doch in der Entscheidung zeigt sich zugleich die geistige Autonomie und Freiheit der Menschen. In Foucaults Theorieansatz, der sich auch als kritisch verstand, wurde immer nur die Macht der anderen zum Problem, niemals die eigene, wenn man darunter eben nicht Willkür sondern Freiheit versteht. In diesem Sinne muss Foucaults Ansatz als egozentrisch verstanden werden. Er negiert die Autonomie anderer psychischer Systeme eben weil sie zum Problem, ja Bedrohung der eigenen Autonomie wird. Die Entscheidungsfreiheit der Anderen beschränkt die eigene Freiheit. Das fängt nicht erst beim Staat an, sondern schon in jeder Alltagssituation mit den Kommunikationspartnern. Wird eine solche Machttheorie von allen Mitgliedern einer Gruppe geteilt, so werden die Autonomiebedürfnisse der Mitglieder gegeneinander ausgespielt. Da der egozentrische Beobachterstandpunkt mit dem Gruppenstandpunkt gleichgesetzt wurde, lässt sich aus der Innenperspektive dieses Problem nicht mehr als solches beschreiben. Diese Leerstelle wird mit Mythologie oder Verschwörungstheorie ausgefüllt. An solch geradezu tragischen Begriffsverwirrungen leidet die Postmoderne bis heute.
[12] De Shazer modifiziert den Begriff der regressiven Erzählung, den er selbst von anderen Autoren übernommen hat, und spricht von abschweifender Erzählung, um das Abschweifen von einem Ziel zu betonen (vgl. 2009 [1991], S. 110f.). Im therapeutischen Kontext, in dem es um die Erarbeitung und Erreichung bestimmter Ziele geht, ist diese Modifikation durchaus sinnvoll und zweckmäßig, um den Therapieerfolg beurteilen zu können. In Bezug auf die postmoderne Narration erscheint mir dies nicht zweckmäßig, da sie kein Ziel mehr hat bzw. in der Ziellosigkeit ihr Ziel sieht. Insofern kann in diesem Fall nicht von einem Abschweifen gesprochen werden. Und die an diese Einstellung anschließenden regressiven Entwicklungen – sozial und psychisch – wären aus postmoderner Sicht gar kein Abweichen, sondern sind durchaus gewollt. Deswegen möchte ich durch die Rede von regressiven Erzählungen auf den Zusammenhang mit den durch diese Erzählungen angestoßenen Entwicklungen aufmerksam machen bzw. wie eine bestimmte Semantik das psychische Erleben strukturiert und das Handeln orientiert.
[13] Interessant sind in diesem Zusammenhang die Konsequenzen für Sprache. Wenn es nur noch um den Ausdruck von Emotionen und nicht mehr um das Formulieren von Argument und Gegenargument geht, tritt der Informationsaspekt einer sprachlichen Mitteilung immer weiter zurück und der performative Aspekt wird zur primären Funktion der Sprache. Zur Illustration dieser Entwicklungstendenz sei auf Luhmanns Kommentare zu Habermas‘ Theorie kommunikativen Handelns in der Vorlesung zur Gesellschaftstheorie verwiesen (vgl. 2009 [2005], S. 104f.). Obwohl Habermas kein postmoderner Theoretiker ist, scheint seine Theorie kommunikativen Handelns eine solche Sprache zu implizieren. Luhmann weist darauf hin, dass Sprache eigentlich keine Funktion mehr hätte, wenn das Ziel jeder Kommunikation ein Konsens wäre, wie es Habermas annimmt. Denn dann wäre bereits alles gesagt. Die einzige Funktion, die Sprache bei einem vollständigen Konsens noch haben könnte, ist sich gegenseitig sein Wohlwollen auszudrücken. Negativ formuliert, hätte eine solche Sprache die Funktion Dissens und Konflikte zu unterdrücken. Diejenigen, die diese Sprache benutzen, wären damit nicht mehr in der Lage Differenzen im Erleben wahrzunehmen oder anzusprechen. Diese Sprache duldet, wenn man so sagen darf, keinen Widerspruch. Wenn es nur noch darum geht, sich wechselseitig der Bestätigung und Anerkennung zu versichern, würde sich die Funktion dieser Sprache darin erschöpfen die narzisstischen Geltungsbedürfnisse ihrer Nutzer zu befriedigen. Jedes Thema wäre lediglich eine Projektionsfläche persönlicher Geltungsbedürfnisse. Ob diese Sprache ein kulturgeschichtlicher Rückschritt ist, kann man sich mit der folgenden Frage beantworten: Wäre es möglich mit einer solchen Sprache eine Jagd zu koordinieren, um das Überleben einer Gruppe zu sichern?
[14] Siehe zum Thema »Trollen« meinen Text »Über die Kommunikation der Internet-Trolle«.
[15] Siehe als Beispiele für solche Kommunikationsmodelle Ruesch/Bateson 2012 [1951], Goffman 2001 [1981] sowie meine eigenen Texte »Doppelte Kontingenz und die Schematismen der Interaktion«»Kommunikation und Image« und »Die Beobachtung der Beobachtung 3.1 – Funktionale Differenzierung«.
[16] Ich beziehe mich hier ausdrücklich nur auf die Begriffe und Modelle, nicht aber auf die therapeutischen Methoden. Diese können nicht einfach auf größere Gruppen, Organisationen oder gar Gesellschaften übertragen werden. Die ersten Erfahrungen mit Konfliktbewältigung werden in der Familie gemacht. Die dabei gelernten Verhaltensmuster werden häufig auf andere Konfliktsituationen außerhalb der Familie übertragen. Die Fallgeschichten von Selvini Palazzoli et al. drehen sich um die Themen Anerkennung, verdeckte Koalitionen, enttäuschtes Vertrauen, Gesichtsverlust und die Pathologie als Anschlussattraktor. Dieselben Themen kommen auch in politischen Propagandaschlachten vor, aber nicht nur da. Ein erheblicher Teil jeder Öffentlichkeitsarbeit, egal ob für prominente Personen oder Organisationen mit erheblichen Einfluss, konzentriert sich auf die Abwehr von verleumderischen Angriffen auf das jeweilige Image - was nicht bedeutet, dass die Angegriffenen nicht mit denselben fragwürdigen Methoden zurückschlagen können. 


Literatur
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Durkheim, Emile (1983 [1897]): Der Selbstmord. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
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Gehlen, Arnold (2004 [1969]): Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. 6. erweiterte Auflage Klostermann Frankfurt am Main
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Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Luhmann, Niklas (2003 [1975]): Macht. 3. Auflage Lucius & Lucius Stuttgart
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Luhmann, Niklas (2009 [2005]): Einführung in der Theorie der Gesellschaft. 2. Auflage Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg
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